25. April 2024

Peer Steinbrück: Klartext über seine politischen Erben

„Alle wollen eigentlich, dass die Politiker Profil haben, eigenständig denken und Klartext reden, doch wehe sie tun es. Dann werden sie nicht gewählt“, der bemerkenswerte Satz eines Mannes, der eigentlich immer Klartext redet – und auch jetzt noch im politischen Unruhestand. Peer Steinbrück, Büroleiter von Johannes Rau, NRW-Ministerpräsident, Bundes-Finanzminister, Kanzler-Kandidat, ist damit fast immer gut gefahren.

Polit-Legende Peer Steinbrück (l.) im Gespräch mit Moderator Jürgen Zurheide – © Claudia Posern / Fotostudio Essen

Auch als Impulsgast bei der renommierten Essener Netzwerkveranstaltung STADTGESPRÄCHE.ruhr  blieb der 77jährige SPD-Polit-Profi im informativen und unterhaltsamen Talk mit Moderator Jürgen Zurheide (u.a  Deutschlandfunk, WDR) seiner Linie treu.

„Mein Lieblingssatz lautet: Eine gute Grundlage ist die beste Voraussetzung für eine solide Basis. Damit kommt man fast immer durch – auch auf Parteitagen“, erklärte er den rund 400 andächtigen Zuhörerinnen und Zuhörern schmunzelnd.

Keine Spur von Alterssanftmut. Peer Steinbrück schonte seine politischen Erben parteiübergreifend keineswegs. Im Gegenteil. Seine knochenharte Analyse: „Die heutigen Politiker wollen um Himmels Willen niemanden weh tun, sondern vermitteln den Eindruck, dass wir unseren Wohlstand anstrengungslos fortsetzen können. Sie sagen nicht, wie die Rente gesichert werden soll, wie die Energieversorgung in der Zukunft aussieht oder dass es mit der Verteidigungsfähigkeit nicht so bestellt ist, wie es sein sollte. Sie wollen ja, dass Sie, die Bürger, gut schlafen.“

Zwei alte Bekannte: Der Journalist und Ex-NRZ-Chefredakteur Dr. Richard Kiessler (l.) mit dem Politiker Peer Steinbrück – © Claudia Posern / Fotostudio Essen

Was das Computerzeitalter angeht, bewegt sich der Politiker und Buchautor noch zwischen zwei Welten. Er schreibt seine Text immer noch per Hand und tippt sie dann in seinen PC.  Zum Teil mit Hilfe seiner Ehefrau oder seiner Enkel. „In Meiner Generation haben die Älteren ihr Wissen noch an Kinder und Enkel weitergegeben. Heute ist es umgekehrt“, gibt er zu. Gelächter im Publikum.

Peer Steinbrück über das Thema Schuldenbremse: „Ich glaube, dass die Schuldenbremse reformiert werden sollte. Alles, was mit Klimatransformation und Verteidigungsfähigkeit zu tun hat, sollte in Sondervermögen überführt und im Grundgesetz durch eine Zweidrittelmehrheit abgesichert werden. Alles andere muss dann aber vom normalen Haushalt abgedeckt werden. Das Gerede von der Abschaffung der Schuldenbremse halte ich für unverantwortlich.“

Drei Künstler auf einem Foto: Der Spitzenkoch Michael Scheil (l.), Chef des Szene-Restaurants „Chefs & Butchers“, mit dem Essener Künstler Sharyar Azhdari und dem Bild, das er von  Modeschöpfer Karl Lagerfeld geschaffen hat – © Claudia Posern / Fotostudio Essen

Peer Steinbrück über die Verkürzung der Wochenarbeitszeit und die Rente mit 63: „Gesamtwirtschaftlich werden wir mehr arbeiten müssen. Wir sind bei den Industrienationen das Land mit der geringsten Arbeitsstundenzahl  im Jahr. Und aufgrund der demographischen Entwicklung sollten wir auch kein festes Renteneinstiegsalter mehr haben, sondern flexibel sein. Die Rente mit 63 war eigentlich für Arbeiter gedacht, die einen harten Job haben. Mittlerweile wird sie immer mehr von Angestellten in Anspruch genommen, die sicher bis 66 arbeiten könnten.“ Wieder klare Kante!

Moderator Jürgen Zurheide wollte den eloquenten wie humorvollen Impulsgast nicht von der Bühne lassen, ohne ich auf seinen Parteifreund Olaf Scholz angesprochen zu haben. „Wir haben einen begnadeten Kommunikator als Bundeskanzler, kann das sein?“ Der gewiefte Politiker umschiffte die Klippe humorvoll: „Wollen Sie mir jetzt ein Parteiausschlussverfahren an den Hals jagen?“ fragte er lachend.

Die begnadete Sängerin Mirjam von Eiden – © Claudia Posern / Fotostudio Essen

Der Moderator ließ nicht locker: „Olaf Scholz hat aber doch gesagt: Wer Führung bei mir bestellt, der bekommt sie auch.“ Diesen Steilpass nahm Borussia-Dortmund-Fan Peer Steinbrück dann allzu an: „Das ist ein schönes Zitat. Aber wenn Führung bestellt und dann nicht geliefert wird, ist das schlecht!“

Und ganz zum Schluss des Gesprächs schaffte es Moderator Jürgen Zurheide  auch noch, dem erfahrenen Politiker einen fachmännischen Ratschlag zu entlocken, wie die momentane Krise aus seiner Sicht gemeistert werden könnte.

Peer Steinbrück: „Wir brauchen so etwas wie eine Agenda 2030, ein sehr umfassendes Sofortprogramm für Themen wie Bildung, Fachkräftemangel, bezahlbarer Wohnraum, Digitalisierung, Entbürokratisierung und auch eine Reform des Föderalismus. Die politische Kraft, die am ehesten in der Lage ist, dieses Reformprogramm zu adressieren, wird in meinen Augen auch gewinnen.“

Genossen den erfolgreichen Abend: (v.L.) Moderator Jürgen Zurheide, Impulsgast Peer Steinbrück und Dr. Klaus-Peter Reintges, Vorstandsmitglied des Vereins STADTGESPRÄCHE.ruhr – © Claudia Posern / Fotostudio Essen

Das tiefgründige Interview, das Jürgen Zurheide mit Polit-Legende Peer Steinbrück führte, war der absolute Höhepunkt eines interessanten, kurzweiligen Abends im Chorforum Essen. Gastgeber Dr. Richard Kiessler (u.a. Ex-Chefredakteur der NRZ) hatte zunächst Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen, Schirmherr der STADTGESPRÄCHE.ruhr begrüßt. In seinem Grußwort hob das Essener Stadtoberhaupt den hohen Stellenwert des Netzwerktreffens hervor, das in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert.

Den kulturellen Part übernahm Sängerin Mirjam von Eiden, glänzend wie ihr Outfit interpretierte sie u.a. John Lennons Friedens-Hymne „Image“. Ihr hochverdienter Lohn: Standing Ovations.

Kaum weniger Applaus erhielt auch Michael Scheil, Chef des Szene-Restaurants „Chefs & Butchers“, für die köstliche Currywurst, die er und sein Team den Gästen servierte. Ein Abend, an dem irgendwie jeder auf seine Kosten kam.

Text Peter Pionke

Gastgeber Dr. Richard Kiessler (l.) im Gespräch mit Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen – © Claudia Posern / Fotostudio Essen

Über Peer Steinbrück

Peer Steinbrück wurde am 10. Januar 1947 in Hamburg geboren. Sein Vater war Architekt. Er besuchte die Grundschule und wechselte dann auf die altsprachliche Gelehrtenschule des Johanneums. Er verließ diese aber nach der 8.Klasse wegen unzureichender Leistungen wieder. 1968 machte Steinbrück  an der Staatlichen Handelsschule Am Lämmermarkt sein Fachabitur in Wirtschaft, nachdem er zweimal Jahrgangstufen wiederholen musste. Nach zwei Jahren als Bundeswehr-Zeitsoldat  wurde er 1969 SPD-Mitglied.

1974 schloss Peer Steinbrück sein Studium der Volkswirtschaftslehre an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Diplom-Volkswirt ab. 1975 zog er zu seiner zukünftigen Frau Gertrud nach Bonn, wo diese als Doktorandin arbeitete. 1976 wurde er Mitarbeiter im Bonner Bundesministerium für Forschung und Technologie. Ein Jahr später stieg er zum persönlichen Referenten der SPD-Minister Hans Matthöfer und Volker Hauff auf. Von 1978 bis 1981 war Steinbrück dann wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kanzleramt von Helmut Schmidt.

SPD-Politiker Peer Steinbrück – © Claudia Posern / Fotostudio Essen

Weitere Stationen: Referent der SPD-Bundestagsfraktion (1983), Ministerium für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft in NRW (1985). 1986 wurde er Büroleiter von NRW-Ministerpräsident Johannes Rau. 1990 Wechsel als Staatssekretär in Schleswig-Holstein unter Björn Engholm. 1993 Ernennung zum Minister für Wirtschaft, Technik und Verkehr  im Bundesland  Schleswig Holstein unter Heide Simonis.

1998 kehrte Peer Steinbrück nach NRW zurück, wurde zunächst Minister für Wirtschaft, Mittelstand, Technologie und Verkehr und 2000 Finanzminister im Kabinett von Wolfgang Clement. Am 06.11.2002 wurde Steinbrück zum NRW-Ministerpräsident gewählt. 2005 verlor Peer Steinbrück die NRW-Landtagswahl gegen Jürgen Rüttgers (CDU). Im gleichen Jahr wurde er als Finanzminister in die von Angela Merkel (CDU) geführte Bundesregierung berufen.

2012 trat Peer Steinbrück als SPD-Kanzlerkandidat gegen Amtsinhaberin Angela Merkel an, verlor aber klar mit dem zweitschlechtesten Ergebnis. 2016 legte er sein Bundestagsmandat nieder.

Zwei Politiker unterschiedlicher Parteien: (v.L.) Essen Oberbügermeister Thomas Kufen (CDU) und SPD-Politik-Legende Peer Steinbrück – © Claudia Posern / Fotostudio Essen

Link zur Webseite der STADTGESPRÄCHE.ruhr:

https://stadtgespräche.ruhr/

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