27. Oktober 2023

Anja Liebert: „Klimaschutz ist bereits jetzt Jobmotor“

Die Wuppertalerin Anja Liebert (54) sitzt seit 2021 für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag. Vorher hatte die Politikerin schon jede Menge Erfahrung auf kommunaler Ebene gesammelt. Von 1999 - bis 2001 und von 2004 - bis 2020 war Anja Liebert Stadtverordnete im Rat der Stadt Wuppertaler. Dass in Berlin ein weitaus rauerer Wind herrscht, als auf den Höhen Wuppertals, dürfte ihr inzwischen auch klar geworden sein.

Ihr Herz schlägt für Wuppertal: MdB Anja Liebert unter dem Gerüst der Schwebebahn – © Wolf Sondermann

Anja Liebert ist im Bundestag Ordentliches Mitglied im Ausschuss für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen sowie Stellvertretendes Mitlied im Petitions- und Verkehrsausschuss. Privat vertraut sie als überzeugte Kleingärtnerin auf selbstangebaute, ökologsche Lebensmittel und fährt gern mit der Eisenbahn – was wohl bei einer Grünen-Politkerin nicht sonderlich überraschend ist.

Im Interview mit der STADTZEITUNG zieht Anja Liebert, Bundestagsabgeordnete (MdB) von Bündnis 90/Die Grünen, ihre ganz persönliche Halbzeitbilanz der Ampel-Regierung.

DS: Welche Schulnote würden Sie der Ampel-Regierung zur Halbzeit geben und warum?

Anja Liebert: „Als Schulnote gebe ich eine 3, weil wir in der Ampel schon viel auf den Weg gebracht haben, aber die „mündliche Note“, also die Kommunikation, wirklich verbesserungswürdig ist.“

DS: Haben Sie vorher geahnt, dass Regieren in einer Dreier-Koalition so kompliziert werden würde?

Anja Liebert: „Da mir die Erfahrung für so ein Bündnis fehlte, bin ich optimistisch an die Sache rangegangen. Wir haben ein starkes Koalitionspapier gemacht, das leider von der Realität eingeholt wurde. Die Notwendigkeit, auf den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine zu reagieren, hatte und hat einfach hohe Priorität.“

Anja Liebert bei einer Rede im Bundestag – © Deutscher Bundestag

DS: Was sagen Sie dazu, dass Ihrer Partei von vielen Seiten vorgeworfen wird, Sie würden zu rigoros versuchen, Ihre ideologisch geprägten Vorstellungen und Überzeugungen durchzusetzen?

Anja Liebert: „Die meisten Menschen möchten eine intakte Umwelt und eine Welt, in der auch in Zukunft ein gutes Leben möglich ist. Dafür müssen wir etwas tun beim Klimaschutz und für ein selbstbestimmtes Leben. Das bedeutet Veränderung. Für manche Menschen gehen unsere Ideen, zum Beispiel in der Verkehrspolitik oder bei Klimathemen, zu weit oder sie befürchten Einschränkungen. Veränderungen sind aber nötig, damit wir gemeinsam eine Zukunft haben. Das hat nichts mit Ideologie zu tun. Nichtstun ist jedoch leider keine Option.“

DS: Wie sehen Sie die Rolle von Kanzler Olaf Scholz, der oft sehr zaghaft wirkt und vieles einfach laufen zu lassen scheint?

Anja Liebert: „Der Bundeskanzler ist sicherlich nicht zaghaft. Aber auch hier gilt: Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern ist wichtig, um die Menschen in diesen Zeiten mitzunehmen.“

DS: Haben Sie die vielen lautstarken Proteste in Sachen GEG-Gesetz überrascht?

Anja Liebert: „Die Art des Protestes hat mich schon überrascht, da es keine wirkliche Diskussion gab, sondern erstmal nur „draufgehauen“ wurde. Auch zum Beispiel von Teilen der Medien. Ob Handwerk, Vermieterinnen, Vermieter oder Hersteller – eigentlich wissen alle, dass das Heizen mit Öl und Gas immer teurer wird und daher diese Heizungen nicht mehr die Standardlösung sein können. Durch die Übergangsfristen und die kommunale Wärmeplanung kann jetzt an tragbaren Lösungen gearbeitet werden. Lösungen, die sozial gerecht, klimafreundlich und vor allem eben machbar sind.“

Anja Liebert: Arbeitsplatz in Berlin – Zuhause in Wuppertal – © Wolf Sondermann

DS: Sie regieren in einer Reihe von Bundesländern durchaus erfolgreich mit. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Sie im Bund so viel Gegenwind bekommen?

Anja Liebert: „Wir regieren auch im Bund erfolgreich mit. Wenn ich mir die Sonntagsfragen so anschaue, sind die Grünen die stabilste Partei in der Ampelkoalition. Wenn „Gegenwind“ zu Diskussionen führt, finde ich das in Ordnung. Wenn es nur noch Populismus ist, dann haben nicht nur wir Grünen ein Problem, sondern die Demokratie insgesamt.“

DS: Ideologisch stehen die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ Ihrer Partei sicher am Nächsten. Was halten Sie denn persönlich von den Aktionen der sogenannten „Klima-Kleber“?

Anja Liebert: „Ich halte diese Aktionen nicht für zielgerichtet, denn sie führen nicht dazu, dass Menschen mehr Akzeptanz für Klimaschutz aufbringen. Eigentlich schade, dass engagierte Menschen ihre Energie nicht stärker in Lösungen investieren.“

DS: Die Klimaaktivisten dramatisieren die Situation so, als würde morgen die Welt untergehen und Deutschland, dessen Anteil etwa 1,8 Prozent des weltweiten CO2-Ausstosses ausmacht, könne allein die Welt retten. Das ist kein überzeugendes Argument. Müsste man nicht stattdessen als Vorreiter die Forschung und Industrie stärker motivieren, Technologien zu entwickeln, die weltweit den CO2-Ausstoss senken und somit entscheidend zur Klimarettung beitragen?

Anja Liebert: „Wenn wir mit unserem CO2-Ausstoss so weitermachen wie bisher, dann wird sich die Welt dramatisch verändern, mehr Hitze, mehr Starkregen, mehr Dürre, Lebensräume werden unbewohnbar, Arten sterben aus – das bestätigen alle seriösen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die Technologien und Instrumente sind da, wir müssen sie umsetzen und einsetzen. Ein gutes Beispiel dafür ist der massive Ausbau erneuerbarer Energien. Aber versuchen Sie mal, in Deutschland ein Tempolimit einzuführen.“

Die Grünen-Politikerin Anja Liebert – © Wolf Sondermann

DS: Früher gab es Bundesminister für Wirtschaft, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie oder Bundesminister für Wirtschaft und Energie. Robert Habeck ist der erste Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz. Halten Sie diese Konstellation nicht für problematisch, weil da Interessenskonflikte – zumindest in der Wahrnehmung – vorprogrammiert sind?

Anja Liebert: „Die Kombination von Wirtschaft und Klimaschutz ist richtig und wichtig. Die Wirtschaft tätigt bereits riesige Investitionen in Klimaschutz, um wettbewerbsfähig zu sein. Ob Energieversorgung oder neue Produkte und Dienstleistungen – Klimaschutz ist bereits jetzt Jobmotor.“

DS: Rund 80 Prozent der Deutschen sind mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden. Alle Regierungsparteien haben an Zuspruch verloren. Warum bereitet das Ihnen keine schlaflosen Nächte?

Anja Liebert: „Ja, SPD und FDP haben stark an Zuspruch verloren. Aber im Ernst: Mir macht insbesondere Sorge, dass es Menschen gibt, die grundsätzlich mit dem demokratischen System in Deutschland unzufrieden sind und sich rechten Parteien zuwenden. Das ist ein großes Problem. Im Jahr 2018 waren übrigens 78% der Bürgerinnen und Bürger unzufrieden mit der Bundesregierung und insbesondere mit der CSU. Umfragen sind Momentaufnahmen, daher sollten wir uns auf die Arbeit konzentrieren und nicht auf Umfragen.“

Politikerin Anja Liebert im „Spiegel“ – © Wolf Sondermann

DS: Wie groß schätzen Sie die Chance ein, dass die Ampel-Koalition bei der nächsten Bundestagswahl wiedergewählt wird?

Anja Liebert: „Wir haben gerade die Hälfte der Legislaturperiode erreicht und in dieser Zeit Kriege, Krisen und Katastrophen erlebt. Ich bin mir sicher, dass das für jede Regierung eine harte Probe gewesen wäre. Von daher kann ich da keine Prognose abgeben. Bei der nächsten Bundestagswahl werde ich natürlich für ein starkes grünes Ergebnis kämpfen, alles Weitere werden wir dann sehen. Bis dahin haben wir noch viel Arbeit.“

DS: Bislang wird die AfD von den anderen Parteien zum großen Teil ignoriert, beschimpft und nicht richtig ernst genommen. Und trotzdem legt die Partei immer weiter zu. Müsste man sich mit der AfD nicht inhaltlich auseinandersetzen, die Widersprüche und Risiken ihrer politischen Forderungen in den Fokus rücken, oder haben Sie eine andere Idee, wie die demokratischen Parteien wieder Stimmen von der AfD zurückerobern könnten?

Anja Liebert: „Ich teile Ihre Analyse an der Stelle nicht, dass die AfD ignoriert oder beschimpft wird. Schauen Sie sich gerne mal eine Bundestagsdebatte im Internet an: Die AfD bietet keine Lösungen für die aktuellen Herausforderungen an, sondern ist überwiegend destruktiv. Ihre vermeintlichen Ideen würden die Wirtschaft und die Sozialsysteme ruinieren, Deutschland in der Welt isolieren und soziale Ungerechtigkeiten fördern. Die demokratischen Parteien sollten daher nicht auf die populistischen Töne reinfallen und diese übernehmen, sondern sach- und zukunftsorientiert zum Wohle der Menschen arbeiten.“

Anja Liebert über den Dächern Wuppertals – © Wolf Sondermann

DS: Was haben Sie in den letzten zwei Jahren konkret für die Bergische Region erreichen können?

Anja Liebert: „Als Mitglied im Bauausschuss habe ich viel mit Stadtentwicklungsthemen zu tun, die sehr wichtig für unsere Region sind. In den letzten zwei Jahren sind viele Millionen an Fördergeldern aus unterschiedlichen Programmen ins Bergische geflossen. Exemplarisch seien hier zum Beispiel die Zuwendungen für die Instandsetzung der Jakobstreppe und des Weyerbuschturms genannt oder das Modellprojekt des Grünen Zoos für den klimaneutralen Betrieb, das allein mit mehr als vier Millionen Euro gefördert wird. Mit den Gesetzen aus dem Bau- und Energiebereich haben wir Beschleunigung und Vereinfachung für den Ausbau von erneuerbaren Energien vorangebracht. Für viele Unternehmen auch im Bergischen Land ein wichtiger Faktor. Dazu die Entlastungspakete für Verbraucherinnen, Verbraucher und Unternehmen. Auch die Mindestlohnerhöhung und das neue Bürgergeld wirken sich direkt auf die Menschen hier aus. Es gibt auch vermeintlich kleine Punkte, z.B. die Verlängerung der Antragsfrist für die Fluthilfe – für Betroffene manchmal entscheidend.“

DS: Die Stimmung in den Unternehmen des Bergischen Dreiecks ist denkbar schlecht, inwieweit können Sie den Unternehmerinnen und Unternehmern, darunter auch viele Mittelständler, Hoffnung machen?

Anja Liebert: „Wir sind wirklich in einer Zeit mit großen Veränderungen, ob bei Unternehmen oder den Menschen. Den Unternehmerinnen und Unternehmern möchte ich Mut machen, sich weiter engagiert für die Region einzusetzen. Für den Umbau hin zu klimafreundlicher Produktion und Dienstleistung unterstützen wir mit milliardenschwerer Förderung. Die Planungsbeschleunigung macht Prozesse einfacher und schneller. Bei der Digitalisierung müssen wir allerdings alle gemeinsam noch besser werden, denn auch das ist für die Unternehmen ein großes Zukunftsthema. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz schaffen wir die Möglichkeiten, dem  Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Ich wünsche mir auch wieder mehr Optimismus und weiß, dass unsere Bergischen Unternehmen mit aller Kraft für die Zukunft arbeiten.“

Hat den Bundestag im Blick: Anja Liebert – © Philipp Czampiel

DS: Welche Erwartungen setzen Sie in die zweite Hälfte der Legislaturperiode?

Anja Liebert: „Unser Koalitionsvertrag ist die Grundlage auch für die nächsten zwei Jahre. Wir haben bereits viel umgesetzt und müssen gemeinsam und mit guter Kommunikation weiterarbeiten. Ich wünsche mir sehr, dass wir wieder in einer friedlicheren Welt leben können. Wir werden in der Ampel weiter den Klimaschutz und die soziale Abfederung im Blick behalten – das sind wir den Menschen schuldig.“

DS: In Wuppertal ist mit Dr. Uwe Schneidewind einer Ihrer Parteikollegen Oberbürgermeister. Wie schätzen Sie seine Arbeit ein?

Anja Liebert: „Es steht mir als Bundestagsabgeordnete nicht zu, über die Arbeit des Oberbürgermeisters zu urteilen – das steht ausschließlich den Bürgerinnen und Bürgern Wuppertals zu.“

DS: Vielen Dank für das offene, informative Gespräch

Das Interview führte Peter Pionke

 

Anja Liebert MdB Bündnis 90/Die Grünen – © Philipp Czampiel

VITA ANJA LIEBERT

Anja Liebert wurde am 19.09.1969 in Dortmund geboren. Dort ging sie auch zur Schule und machte auch ihr Abitur. Sie studierte zunächst in Münster und anschliessend an der Bergischen Universität Literaturwissenschaft, Anglistik und Politikwissenschaften. Sie verlegte auch ihren Wohnsitz nach Wuppertal. Im Rahmen ihres Studiums arbeitete Anja Liebert von 1992 -1993 ein Jahr als Sprachassistentin in England.

An der Bergischen Universität engagierte sie sich in unterschiedlichsten Gremien. Um zum Teil ihr Studium zu fianzieren, arbeitete Anja Liebert als Studentische Hilfskraft im Fotolabor, als Produktionshilfe und als Aushilfe in der Pressestelle der Uni. Zuletzt unterstützte sie als Honorardozentin für Deutsch Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern beim Erlernen der der deutschen Sprache.

In dieser Zeit fand sie auch den Weg zu den Wuppertaler Grünen, engagierte sich in der Frauen-AG, im Verkehrsbereich und im Kreisverband-Vorstand.

1999 wurde Anja Liebert erstmals in den Rat der Stadt Wuppertal gewählt und gehörte ihm bis 2001 an. Von 2001 – 2004 war sie als Pressesprecherin und Marketing-Leiterin bei einem ökologischen Finanzdienstleister fest angestellt. In der Zeit stand sie dem Wuppertaler Verkehrsausschuss als sachkundige Bürgerin weiterhin zur Verfügung.

Anja Liebert locker in Freizeitklamotten – © Wolf Sondermann

Von 2004  – 2020 sass Anja Liebert dann erneut im Rat der Stadt – von 2014 – 2020 war sie Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen als Teil einer Doppelspitze. Von 2010 – 2012 arbeitete Anja Liebert beim Bildungsträger WIPA GmbH als Dozentin in der Erwachsenenbildung. Ab 2012 war sie als Verwaltungsangestellt beim Jobcenter Wuppertal (AöR) tätig. 2021 zog sie über die Landesliste Von Bündnis 90/Die Grünen in den  Deutschen Bundestag ein.

Anja Liebert war von 2015 – 2021 Aufsichtsrätin der Bergischen Struktur- und Wirtschaftsförderungsgesellschaft mbH in Solingen. Sie sitzt seit 2009 im Aufsichtsrat der Wuppertaler Stadtwerke mobil GmbH und seit 2014 im Aufsichtrat der WSW Wuppertaler Stadtwerke GmbH.

Anja Liebert ist ledig und Mutter eines Kindes.

Link zur Homepage von Anja Liebert:

http://www.anjaliebert.de

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