22. März 2024

Leroy Sané: In nur 90 Minuten zum großen Verlierer?

Eines habe ich in den letzten Tagen gelernt: Die Reise von der vermeintlichen Kreisklasse bis zur Weltklasse dauert 90 Minuten. Zumindest wenn man vielen Fußball-Experten und Sportjournalisten glaubt. Und wie man zum Auslaufmodell oder zumindest zum Problemfall wird, dauert übrigens genauso lange.

Gegen Frankreich erzielte die deutsche Nationalmannschaft zwei tolle Tore © Pixabay / Frauke Riether

Eines vorweg. Ich bin kein Sportjournalist, obwohl ich im Rahmen meines Volontariats sechs Monate in die Sportredaktion der Neuen-Ruhr-Zeitung (NRZ) hinein geschnuppert habe. Begeisterter Fußball-Fan bin ich bis heute geblieben. Wer mein Lieblingsverein seit vielen Jahren ist, traue ich mich kaum noch zu sagen. Aber so viel: Er hat seine Heimat in Gelsenkirchen und die Spieler tragen königsblaue Trikots.

Ich verfolge nach wie vor sehr interessiert die Fußballszene und auch den Weg unserer Nationalmannschaft. 1:4 – 2:1 – 3:1 – 2:2 – 2:3 – 0:2 – 2:0. Das sind nicht die Wasserstandmeldungen, sondern die Ergebnisse unserer Nationalmannschaft aus deutscher Sicht in der Saison 202320/24. Drei Siege (gegen USA und 2mal gegen© Frankreich), ein Unentschieden (Mexiko), drei Niederlagen (Japan, Türkei, Österreich).

Die 0:2-Niederlage gegen (Österreich (21.11.2023) liegt gerade einmal vier Monate zurück. Ein Tiefpunkt. Damals machte sich Endzeitstimmung breit. Für viele war es der Untergang des deutschen Fußballs! Neu-Bundestrainer Julian Nagelsmann wurde von Experten sowie schreibenden und sendenden Journalisten-Kollegen gleich wieder in Frage gestellt.

Deutschland in EM-Euphorie?

Doch ein Kick später sieht alles schon wieder ganz anders aus. Florian Wirtz und Kai Havertz haben offensichtlich mit zwei traumhaften Treffern über Nacht eine schier unglaubliche EM-Euphorie losgetreten. Ein Steilpass für alle Optimisten, ein Eigentor für diejenigen, die nach jeder Niederlage am liebsten die ganze Mannschaft ausgewechselt hätten. Auch Musiala, Wirtz und Harvertz, die neuen Helden.

Und plötzlich haben wir gleich drei Traumpaare auf dem Rasen: Rüdiger und Tah, Kroos und Gündogan und natürlich Musiala und Wirtz, bei denen viele Experten noch vor wenigen Tagen der Meinung waren, dass sie nie und nimmer zusammen passen. Doch nach nur zwei Halbzeiten ist jetzt zu lesen: Bayern München müsse unbedingt 100 Millionen oder mehr Euro locker zu machen, um Florian Wirtz zu seinem neuen Lieblings-Spielkameraden Jamal Musiala an die Isar zu holen.

Zugegeben: Die deutsche Nationalmannschaft hat gegen Frankreich ein starkes Spiel mit zwei tollen Toren abgeliefert. Es war ein Testspiel gegen einen Gegner mit großen Namen. Aber nicht wenige hatten das Gefühl, dass unsere Kicker diese Freundschafts-Partie viel ernster genommen haben als die Franzosen.

Eigentlich auch kein Wunder, bei den Ergebnissen des letzten Jahres und dem Horrorszenario vor Augen, möglicherweise die Vorrunde bei einer EM im eigenen Land nicht zu überstehen.

Bei aller Freude über den Erfolg gegen den EM-Favoriten hat man – typisch deutsch – auch ganz schnell die „großen Verlierer“ dieser vermeintlichen Wiedergeburt einer Super-Elf ausgeguckt: Allen voran Leroy Sané.

Dieser fußballerische Schöngeist hat es bei Experten, Journalisten und anderen Kritikern immer besonders schwer. Weil er anders ist, weil er eine andere Körpersprache hat, weil er sich anders fortbewegt als ein Hammerwerfer, weil er kein Grätschen-König ist, sondern das Florett dem Schwert vorzieht? Vermutlich vermisst man bei ihm die typisch deutschen Tugenden: Ärmel hochkrempeln, kämpfen, rennen, grätschen. Aber das tun Wirtz, Musiala und Harvertz auch nicht – zum Glück für den deutschen Fußball.

Schon gibt es Schlagzeilen wie diese: „Leroy Sané ist der große Verlierer“ – „Wo ist in dieser Mannschaft noch Platz für Sané?“ Und dann stellt auch Felix, der kleine Bruder von Toni Kroos, auch einmal irgendwo gekickt hat, öffentlich die Frage, ob es nicht vielleicht besser sei, Sané gleich zuhause zu lassen, weil er bei der EM auf der Ersatzbank ein Unruhestifter sein könnte?

Ich bin mir 100prozentig sicher: Diese Frage würde sich bei keiner anderen EM-Teilnehmer-Nation stellen. Da hätte ein Ausnahmefußballer wie der Dribbelkünstler aus München zumindest einen Kaderplatz sicher – wenn nicht mehr.

Die Frage nach der Sané-Zukunft in der Nationalelf stand auch im Vordergrund der Pressekonferenz vor der Partie gegen Holland. Was dabei auffiel: Fast ausnahmslos wurde der Bundestrainer von den anwesenden, deutschen Journalisten mit stolzem Unterton überaus distanziert und respektvoll geduzt. „Lieber Julian…“

Aber der „liebe Julian“ ließ sich nicht in die Zange nehmen. Er erklärte sachlich: „Leroy hat einen sehr guten Charakter und ist ein guter Typ. Er wird sich am Ende eingliedern müssen wie alle anderen. Aber er hat eine Qualität, auf die wir generell nicht verzichten wollen und können.“ Klare und kluge Worte.

Wie wichtig ist eine neue Tor-Hynme wirklich?

Für die Frage aller Fragen, ob er sich eine neue Tor-Hymne wünschen würde, etwa „Major Tom“ vom NDW-Barden Peter Schilling, hatte dagegen nur ein müdes Schmunzeln übrig.

Julian Nagelsmann ist ein intelligenter Fußball-Lehrer, der selbstverständlich andere Sorgen hat. Er weiß genau, dass ein Sieg gegen Frankreich noch kein neues EM-Märchen schreibt. Und ihm ist natürlich auch klar, dass bis zum Eröffnungspiel Deutschland gegen Schottland (14.06.) noch viel passieren kann – wie Verletzungen, Sperren oder Formtiefs.

Und selbst wenn – was der Fußball-Gott so richten möge – bis dahin alle fit bleiben, die drei neuen Traum-Duos und der Rest, ist es für Julian Nagelsmann, aber auch für uns Fußball-Fans, sicher ein tolles Gefühl, dass wir mit Sané, Müller, Füllkrug und Undav noch torgefährliche Offensiv-Kicker in der Hinterhand haben. Und auch für Abwehr und Mittelfeld hat der „liebe Julian“ gottlob noch einige Asse im Ärmel.

Im Nachbarschafts-Derby gegen Holland sah die Sache auch schon wieder etwas anders aus. Es war wieder eine gute Leistung von Gündogan, Kroos & Co. – aber bei weitem nicht mehr so überzeugend wie gegen die Franzosen. Der  2:1-Sieg nach 0:1 Rückstand gegen Orange war nicht unverdient, aber der Siegtreffer durch Füllkrug in der 86. Minute kam mehr als glücklich zustande.

Bemerkenswert: Zu dem Zeitpunkt waren die Säulen Gündogan und Kimmich sowie die „Wunderknaben“ Wirtz, Havertz, Andrich und Mittelstädt schon gar nicht mehr auf dem Rasen. Soviel zum Thema: Diese Elf oder gar nichts. Also sollten wir den Ball flach halten. Wir haben einen Kader, der auch in der Brete gut aufgestellt ist. Und die beiden Auftritte gegen Frankreich und Holland machen Hoffnung – Hoffnung auf eine gute, erfolgreiche EM. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Peter Pionke

 

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