31. August 2022

Neue Tarifpflicht: Das Aus für viele Pflegedienste?

Eine gute Idee, aber nicht zu Ende gedacht? Am 1. September 2022 tritt die Tarifpflicht in der Pflege in Kraft. Doch daraus ergeben sich nach Überzeugung von Michael Wessel, Inhaber des Wuppertaler Pflegedienstes Wessel, mehr Fragen als Antworten. Unter dem Strich könnte die neue Tarifpflicht das Aus vieler privat geführter Pflegedienste in den kommenden Monaten bedeuten.

Michael Wessel macht sich Sorgen um seine Branche – © Pflegedienst Wessel

Michael Wessel spricht Klartext: „Als wir von der Tarifpflicht erfahren haben, waren wir zunächst erleichtert. Denn darin haben wir zwei Vorteile gesehen: Erstens bekommen Pflegekräfte eine bessere Bezahlung und zweitens gibt es mehr Transparenz, wenn jeder Arbeitgeber das gleiche zahlen muss. Damit wäre der finanzielle Anreiz, ein Unternehmen zu wechseln, nicht mehr gegeben und die Job-Fluktuation in der Branche nähme ab.“

Vielmehr träten dann Auswahlkriterien wie Arbeits- und Freizeit, Fortbildungs- und Karrieremöglichkeiten sowie zusätzliche Angebote stärker in den Vordergrund.

Zudem hieß es bei Ankündigung der Tarifpflicht, dass die Refinanzierung gesichert sei. „Darauf haben wir uns natürlich verlassen“, sagt Michael Wessel. Zum 1. September 2022 tritt die Tarifpflicht in Kraft – doch seit gut sieben Monaten gebe es mehr Fragen und Sorgen, als Antworten und Optimismus.

Denn von einer Refinanzierung könne keine Rede sein und es herrsche Chaos, welchem Tarif sich welches Unternehmen anschließen solle. Allein NRW stellt 16 Tarife zur Auswahl. Seit Monaten befasst sich ein extra gebildetes Team bei Pflege Wessel mit der Berechnung, welcher der passende für die rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein könnte.

Denn das könne bei jedem Unternehmen ein anderer Tarif sein: „Es kommt auf die Struktur an. Ist es ausschließlich ein ambulanter Fahrdienst, sind es Wohngemeinschaften oder wie in unserem Fall eine Mischung aus beidem mit zusätzlicher 24-Stunden-Betreuung von Patienten in ihrem eigenen Zuhause.“

Am Ende aller Berechnungen stehe fest: Für Pflege Wessel bedeute es 20 bis knapp 30 Prozent mehr Lohnkosten in Höhe von 60.000 bis 70.000 Euro pro Monat. Das Problem dabei: Der maximal von der Pflegekasse zur Verfügung stehende Betrag, der pro Pflegegrad an den Patienten gezahlt werde, bliebe unverändert. Der Kostendeckel sei starr. Lediglich für die einzelnen Leistungen, die eine Pflegekraft am Patienten erbringe – beispielsweise für Waschen oder Duschen, Hilfe beim Anziehen oder auf der Toilette – könne nun ein etwas höherer Betrag abgerechnet werden.

Michael Wessel – © Pflegedienst Wessel

Doch das verschärfe das Problem weiter: Wenn auch noch die Leistung teurer werde und die Pflegekraft mehr Lohn bekomme, sei der Deckel des Pflegegrades umso schneller erreicht. Michael Wessel befürchtet: „Am Ende leidet vor allem der Pflegebedürftige unter der Situation. Wurde er bislang beispielsweise täglich vom Pflegedienst versorgt, ist dieselbe Leistung entweder jetzt nur noch dreimal pro Woche möglich, oder der Betroffene muss privat draufzahlen.“

Das könnten aber die wenigsten, also bliebe nur der Antrag beim Sozialhilfeträger auf Kostenübernahme. Und das im hohen Alter und mit gesundheitlichen Einschränkungen. Michael Wessel ist fassungslos: „Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, werden im Alter von über 80 Jahren jetzt plötzlich zu Sozialfällen. Das ist erschreckend. Und was noch schlimmer ist: Pflegedienste werden künftig nicht mehr anhand ärztlicher Diagnosen und Versorgungsmöglichkeiten entscheiden, einen Patienten anzunehmen oder nicht, sondern anhand seiner Vermögenswerte.“

Michael Wessel fordert, dass hier dringend nachgebessert werden müsse, denn sonst bedeute dies das Aus für viele Pflegedienste in den kommenden Monaten – und das bundesweit. ​

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