9. August 2022

Die bewegte Geschichte des „Deutschlandliedes“

"Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen. Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen. Das ist unendlic wichtig", dieser kluge Satz stammt von Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker. In der Reihe "Jahr100Wissen" beschäftigen sich Wissenschaftler der Bergischen Uni mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.

Prof. Dr. Juliane Brauer lehrt Geschichte und ihre Didaktik – © Friederike von Heyden

In dieser Folge, die unter dem Titel „Man kann an dem Gebrauch von Liedern unheimlich viel Geschichte erzählen“ steht, hat sich Autor Uwe Blass mit Prof. Dr. Juliane Brauer über die Einführung der deutschen Nationalhymne in der Weimarer Republik unterhalten. 

Die deutsche Nationalhymne ist ein Zusammenschluss des Deutschlandliedes, gedichtet 1841 von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und der ursprünglich römisch-deutschen Kaiserhymne von Joseph Haydn. Wie kam es dazu?

Dr. Juliane Brauer: „Grundsätzlich ist das nichts Ungewöhnliches, dass wir Gedichte haben, die mit bekannten Melodien gemischt werden, oder dass wir ein Gedicht haben, das auch Jahrzehnte später oder sogar ein Jahrhundert später mit einer neuen Melodie versehen wird. Wenn man sich dieses Lied – eine Nationalhymne war es damals ja noch nicht – ansieht, ist die Entstehungsgeschichte eher typisch. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben ist 1841 durch die deutschen Lande gereist und entdeckt sein Nationalgefühl. Wir befinden uns mitten in der Rheinkrise. Es geht um die Frage der Zugehörigkeit der linksrheinischen Gebiete zu Frankreich oder dem Deutschen Bund, (das Deutsche Kaiserreich gab es damals noch nicht, das wird erst 1871 gegründet). D.h., wir befinden uns inmitten einer Suchphase nach nationaler Identität, die mit der Gründung des Kaiserreiches zu einem vorläufigen Abschluss kommt. Aber 1841 ist noch völlig offen, welche Gebiete „Deutsch“ sind, welche zu einem zukünftigen deutschen Nationalstaat gehören sollen.“

© Bergische Universität

Juliane Breuer weiter: „Die linksrheinischen Gebiete gehörten bis 1814 zu Frankreich und wurden nach dem Wiener Kongress dem Deutschen Bund zugeordnet. Das stellte Frankreich 1840 in Frage. Der Rhein sollte wieder die natürliche Grenze werden. Welche Gebiete waren nun deutsch, welche französisch? Es entstanden in der Zeit viele vom Nationalgedanken getragene Rheingedichte und Rheinlieder. Aus einem dieser Gedichte ist auch später eine Art Nationalhymne des Kaiserreiches geworden. Das war „Die Wacht am Rhein“ von Max Schneckenburg und Carl Wilhelm. Heinrich Hoffmann von Fallersleben schrieb nun auf seiner Reise durch die deutschen Gebiete 1841 ebenfalls ein Gedicht über die Fragen, was deutsch ist, was deutsches Land, was deutsche Identität ist. Was nicht sicher ist, ob er bereits auf die Melodie Joseph Haydns von 1797 seinen Text geschrieben hat. Sicher ist hingegen, dass die „Kaiserhymne“ von Haydn zu dieser Zeit sehr populär war. Für mehr als 50 Gedichte stellte sie die Melodie. Insofern ist das nicht ungewöhnlich, dass auch das Gedicht von Heinrich Hoffmann von Fallersleben rasch auf die Melodie Haydns gesungen wurde.“ 

Erst  am 10. August 1922 bestimmte Reichspräsident Friedrich Ebert das Lied der Deutschen zur Nationalhymne des Deutschen Reiches. Warum gerade dieses Lied?

Dr. Juliane Brauer: „Wir sind in den Anfangsjahren der Weimarer Republik. Wir haben das erste Mal eine demokratische Republik, so bezeichnete und verstand sie sich. Der 10. oder eigentlich der 11. August 1922 war der sogenannte Verfassungstag, also der dritte Jahrestag, an dem die Weimarer Verfassung verabschiedet wurde. An diesem Tag wurde offiziell zum ersten Mal das „Lied der Deutschen“ als Nationalhymne gesungen. Die Entscheidung hat Friedrich Ebert vermutlich am 10. August verabschiedet. Die Anfangsjahre der Weimarer Republik waren nicht leicht. Sie gründete sich 1918 und gab sich im Sommer 1919 die Verfassung einer demokratischen Republik. Das hat das Land kräftig durchgeschüttelt, denn die Menschen und die Politik mussten Demokratie erst einmal lernen. Gerade in den ersten Jahren gab es massive Angriffe von den Rechtskonservativen, von der Reichswehr und den Kaisertreuen auf die Republik, die abgewehrt werden mussten. Kurz vor dem Verfassungstag wurde Walther Rathenau ermordet und die Republik stand auf ganz unsicheren Füßen. 

Denkmal des Dichters Heinrich Hoffmann von Fallersleben – © Pixabay

Warum wurde das „Deutschlandlied“ aber genau zu dem Verfassungstag als Hymne eingeführt? Dieses Lied wurde schon länger von Deutschnationalen, auch von den militanten, antisemitischen kaisertreuen Chauvinisten als nationales Lied gesungen. Daher war es eigentlich problematisch, es zur Hymne der neuen Republik zu bestimmen. Für die Kommunisten und Sozialdemokraten verbot sich das „Deutschlandlied“ regelrecht. Daher gab es eine lange Phase des Aushandelns dessen, was die Nationalhymne der Weimarer Republik sein könnte. Der ausschlaggebende Punkt war dann, dass sich mit dem „Lied der Deutschen“ eine Kontinuität von den bürgerlich-demokratischen Anfängen des Vormärz und der Revolution von 1848 zur neuen Republik herstellen ließ und es deshalb so geeignet für die erste deutsche Republik erschien.  

Dazu kam, dass 1922 England anfragte, welches offizielle Lied denn für die Weimarer Republik gespielt werden sollte? Jedes Land brauchte für offizielle Anlässe eine Hymne. Daraufhin setzte im Sommer 1922 die Reichsregierung auf die bürgerlich demokratische Tradition und das Gefühl von „Einigkeit und Recht und Freiheit“, das stärker sein sollte als die chauvinistisch nationalistische Idee, mit der die militanten Kaisertreuen das Deutschlandlied bis dahin gesungen haben.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Singen der Nationalhymne, vor allem in der amerikanischen Zone, verboten, und auch nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 gab es keine Festlegung einer Hymne. Zu offiziellen Anlässen wurde daher oft die erste Strophe von Schillers Gedicht „An die Freude“ in der Vertonung von Ludwig van Beethoven aus dem vierten Satz der 9. Sinfonie als Ersatzhymne verwendet. Aber auch das konnte sich nicht durchsetzen. Warum nicht?

Dr. Juliane Brauer: „Ich liebe wirklich diese Liedgeschichten, denn man kann an dem Gebrauch und dem Kampf um Lieder unglaublich viel Geschichte erzählen. Am 23. Mai 1949 gründet sich mit der Verabschiedung des Grundgesetzes die Bundesrepublik und am 7. Oktober mit der Verabschiedung der Verfassung die DDR. Wir haben dazwischen die Aufteilung Deutschlands in die vier Besatzungszonen. Einerseits die drei westlichen Besatzungszonen und andererseits die sowjetische Besatzungszone. Die drei westlichen Zonen schließen sich nach und nach zusammen, zuerst 1947 zur britisch-amerikanischen Bizone, und dann zur Trizone. In Hinblick auf die Trizone schrieb der Kabarettist Karl Berbuer 1948 als Karnevalslied: „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“. Das wurde als Hymne gespielt und gesungen und gar nicht so sehr „Ode an die Freude“.

Der „Trizonesien-Song“ beschreibt die Deutschen ironisch als menschliche „Wesien“ und eben nicht als „Menschenfresser“ und steht damit für die deutsche Befindlichkeit in der Besatzungszeit. Die Deutschen wollten eben nicht mehr von den Alliierten dämonisiert werden, sondern wieder als ganz normale Menschen in einem normalen Land gelten, was angesichts der Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus auch für eine komplette Geschichtsvergessenheit steht. Das Lied ging so natürlich nicht dauerhaft auf den offiziellen Anlässen als Hymne durch.

Die DDR war da viel schneller, und das macht es besonders spannend. Die ersten Funktionäre waren bereits im August 1949, also knapp drei Monate vor der Staatsgründung in Sachen Hymne unterwegs. Johannes R. Becher und Hanns Eisler wurden damit beauftragt, eine neue Nationalhymne für das neue Deutschland zu schreiben. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ beginnt die erste Strophe. Damit steht das Lied für ein neues, staatliches Bewusstsein eines sich entwickelnden sozialistischen Staates. Unabhängig vom politischen Kontext ist Eisler damit auch eine packende Komposition gelungen, nicht umsonst gilt er als einer der bedeutendsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Kaum war die DDR gegründet, bestimmte der Präsident Wilhelm Pieck dieses Lied ganz offiziell zur Hymne. Sie wurde massiv über den Rundfunk, durch Notendrucke und das Erlernen in den Schulen verbreitet.

Das „Deutschlandlied“ in Noten – © Pixabay

In der Bundesrepublik funktionierte das natürlich nicht, ein Lied als Hymne so autoritär durchzusetzen. Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, wollte auch eine neue Hymne für die Bundesrepublik. Ihm war klar: Wir können und dürfen nicht dieses „Deutschlandlied“ in diesen drei Strophen singen, zumal die erste Strophe „Deutschland, Deutschland über alles…“ in der NS-Zeit immer in Verbindung mit dem Horst Wessel-Lied gesungen wurde. Es gab viele Einsendungen mit Vorschlägen für eine neue Hymne. Der Archivbestand zeugt noch heute davon. Viele Menschen schrieben an den Präsidenten, machten Vorschläge für neue Hymnen. Heuss beauftragte dann aber den Dichter Rudolf Alexander Schröder im Sommer 1950, einen neuen Text zu dichten. Zuerst wollte er, dass Carl Orff die Melodie komponieren sollte, doch der lehnte ab. Hermann Reutter komponierte dann die Melodie.

Doch das Ergebnis war nicht überzeugend, Melodie und Text wirkten eher wie ein Choral. Die Reaktionen der Zeitgenossen zeigten, dass die neue Hymne nicht die Herzen bewegen konnte, nicht emotional packen konnte und die Kritik war harsch. Heuss und Adenauer haben sich dann lange brieflich darüber verständigt, was denn nun wirklich als Hymne für Deutschland gespielt werden durfte. Adenauer plädierte sehr für das „Lied der Deutschen“, der alten, geliebten Hymne, weil sie den Menschen so ans Herz gewachsen sei, so emotional sei und alle damit groß geworden seien. Sie beinhalte die Gefühle von Stolz, Glück und Selbstbewusstsein, so argumentierte Adenauer. Heuss hat dann klein beigegeben. Im Mai 1952 schlägt Adenauer vor, nur die dritte Strophe als Nationalhymne zu nehmen und Heuss widersprach nicht mehr.“

Wozu braucht man überhaupt eine Nationalhymne?

Dr. Juliane Brauer: „In anderen europäischen Ländern gibt es darüber überhaupt keine Diskussion, z.B. in Frankreich mit seiner langen Nationalstaatlichkeit. Aber für Deutschland ist es immer wieder Thema, auch 1990 bei der Wiedervereinigung kam die Frage erneut auf, welche Hymne das wiedervereinigte Deutschland haben sollte. Aber lange wurde nicht darüber diskutiert. Das Bedürfnis nach einer vertrauten Hymne mit Wiedererkennungseffekt war sehr groß. Was macht eine Nationalhymne aus? Sie wird gemeinschaftlich gesungen, im Sport zum Beispiel, um sich gemeinsam stark zu fühlen.“

Das Deutschlandlied hat eigentlich drei Strophen. Warum wird heute immer nur die dritte Strophe gesungen?

Dr. Juliane Brauer: „Das war der Kompromiss zwischen Heuss und Adenauer. Die erste Strophe ging schon wegen der nationalsozialistischen Verbindung mit dem Horst-Wessel-Lied nicht. Auch die Gebietsansprüche im Text „… von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt…“ war nach dem Zweiten Weltkrieg völlig unzeitgemäß. Die zweite Strophe ist generell für eine Nationalhymne wenig aussagekräftig und die dritte Strophe war am unverfänglichsten. „Einigkeit und Recht und Freiheit…“. Mit der Gründung zweier deutscher Staaten und nach der über vierzigjährigen Teilung Deutschlands konnte man mit diesem Text nicht viel falsch machen.“

Als Sarah Connor 2005 bei der Eröffnung der Allianzarena statt „Blüh im Glanze…“, „Brüh im Lichte dieses Glückes“ sang, echauffierte sich die gesamte Nation. Wie wichtig ist uns unsere Hymne heute?

Dr. Juliane Brauer: „Wenn man sich die Entwicklung des deutschen Nationalbewusstseins seit 1949 ansieht, erkennt man, dass es nicht besonders ausgeprägt war. Es gab und gibt zwar immer rechtskonservative Kräfte, die ein ausgeprägtes nationalstaatliches Selbstbewusstsein pflegten, aber im Großen und Ganzen hielten sich die Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit überschwänglichen Nationalgefühlen zurück. Das hat sich aber ab den 1990ern und 2000ern geändert. Die Fußballweltmeisterschaft 2006 markierte diese Wendung. Auf einmal war es in Ordnung, die Fahnen herausholen, die Hymne mitzusingen – das gab es ja vorher nicht in diesem Maße. Das hat sich meiner Beobachtung nach deshalb geändert, weil die deutsche Geschichte nach 1989/90 als eine nationalstaatliche Erfolgsgeschichte erzählt werden konnte.

Wir haben die (so wird immer wieder betont) geglückte Wiedervereinigung. Deutschland steht gut da in der Welt, ist eine wirtschaftlich starke Industrienation und politisch eine positive Autorität auch durch die Kanzlerschaft von Angela Merkel. Die Perspektive auf Deutschland hat sich damit in den letzten 30 Jahren sehr verändert. Das ist meiner Ansicht einer der Gründe, warum ein Nationalstolz und ein Nationalbewusstsein wieder akzeptierter ist. Ein Symbol dafür ist eben auch das „Deutschlandlied“, die Nationalhymne, das heute nicht mehr zur Debatte steht und sehr selbstverständlich gerade im Kontext sportlicher Wettkämpfe gesungen wird.“

Uwe Blass

 

© Friederike von Heyden

Über Prof. Dr. Juliane Brauer

Prof. Dr. Juliane Brauer lehrt Geschichte und ihre Didaktik in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsschwerpunkte im Bereich der Geschichtsdidaktik sind Emotionen und historisches Lernen, Musik im Geschichtsunterricht, Imagination und historisches Lernen sowie digitale Geschichtskulturen. Für die Neuere und Neueste Geschichte forscht und lehrt sie vor allem zur Geschichte des geteilten Deutschlands.

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