17. Juli 2025Peter Pionke
Frantz Fanon: Die kämpferische Vision der Entkolonialisierung

Wer war dieser Mann?
Marie Cravageot: „Frantz Fanon wurde am 20. Juli 1925 in Martinique geboren. Er ist eine der einflussreichsten Figuren des antikolonialen Denkens des 20. Jahrhunderts. Seine kraftvolle Analyse der Dynamik von Macht, Rasse und Kolonialismus hat Aktivisten auf der ganzen Welt inspiriert. Seine Ideen beeinflussten sowohl politische Kämpfe als auch akademische Bereiche wie Philosophie, Psychologie und dekoloniales Denken. Fanon verkörperte eine kämpferische Vision der Entkolonialisierung, die Theorie und Aktion miteinander verband. Frantz Fanon (1925-1961) führte mehrere Leben in einem. Er war ein antikolonialistischer Psychiater, Essayist, Revolutionär und Intellektueller mit Wurzeln in Martinique. Er ist vor allem für seine Analysen der psychologischen Auswirkungen des Kolonialismus auf Individuen und Gesellschaften sowie für seine Rolle in den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen bekannt.
Fanon studierte Psychiatrie in Frankreich und arbeitete während des Unabhängigkeitskriegs in Krankenhäusern in Algerien.

Er ist der Autor von Peau noire, masques blancs` (1952), einer Analyse der Psychologie des Schwarzen im kolonialen Kontext, und von ´Les damnés de la terre` (1961), einer Kritik des Kolonialismus und einer Reflexion über revolutionäre Gewalt. Er spielte eine wichtige Rolle in den Unabhängigkeitsbewegungen und schloss sich der algerischen FLN (Front de Libération Nationale) an. Dort nutzte er seine Fähigkeiten als Psychiater, um die Kämpfer zu behandeln und die psychologischen Folgen des Krieges zu analysieren. Seine Arbeit hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entkolonialisierungsbewegungen und auf das zeitgenössische politische und soziale Denken. Alles in allem war Frantz Fanon ein engagierter Denker, dessen Arbeit wesentlich zum Verständnis des Kolonialismus und seiner Auswirkungen sowie zum Kampf für die Emanzipation der kolonisierten Völker beigetragen hat.“
Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er als 17jähriger gegen das Vichy-Regime und erlebte selber Rassismus. Fanon stellte damals fest: Die französische Kultur ist alles. Der Rest ist nichts. Damit wird bei der Bevölkerung ein Minderwertigkeitsgefühl erzeugt. Woran machte er das fest?
Marie Cravageot: „Frantz Fanon meldete sich lange vor dem erforderlichen Alter freiwillig, um das Freie Frankreich gegen den Nationalsozialismus zu verteidigen. Er fühlte sich zu dieser Zeit ganz und gar als Franzose und schloss sich 1943 ohne Widerwillen oder Zweideutigkeit den Freien Französischen Streitkräften unter der Führung von General de Gaulle an, um das „französische Vaterland“ zu verteidigen. Er stellte seine Identität als französischer Staatsbürger in keiner Weise in Frage. „Auf den Antillen identifiziert sich der junge Schwarze, der in der Schule ständig wiederholt ´unsere Väter, die Gallier`, mit dem Entdecker, dem Zivilisator, dem Weißen …“, schreibt Frantz Fanon in ´Peau noire, masques blancs` (Schwarze Haut, weiße Masken) später. Er verließ Martinique 1944 und nahm, nachdem er in Nordafrika eine kurze Offiziersausbildung erhalten hatte, an den Kämpfen nahe der Schweizer Grenze teil. Dort wurde er verwundet und für seinen Kampf ausgezeichnet.
Fanon lernte die Rassenhierarchie in der Armee kennen – die senegalesischen Schützen standen am unteren Ende der Skala – und die dunkle Seite der Kolonialisierung, mit hungernden Kindern in den Straßen von Algier. Er kämpfte mutig in Frankreich, wurde verwundet und von General Salan mit dem Kriegskreuz ausgezeichnet, dem Mann, der sich bei der Unabhängigkeit Algeriens gegen General De Gaulle stellte. Heute hallt der Name Frantz Fanon weltweit wider, ein unumgänglicher Bezugspunkt, wenn es um die Situation der Schwarzen und die dekoloniale Gewalt geht, die nach dem Zweiten Weltkrieg explodierte.

Gerade während dieses Krieges wurde er sich der kolonialen Gewalt und der Rassendiskriminierung bewusst, die die imperiale Ordnung beherrschten. Als Frantz Fanon sich mit 17 Jahren gegen den Nationalsozialismus engagierte, glaubte er, die republikanischen Werte zu verteidigen, die die Abschaffung der Sklaverei getragen hatten. Als Zeuge und Opfer von Rassismus in der Armee führte dies dazu, dass er den Krieg in Frage stellte und ihn als einen Krieg des weißen Mannes betrachtete. Diese Erfahrung war ein Wendepunkt in seiner Weltsicht und nährte seine Kritik am Kolonialismus.“
1953 erprobte er als Chefarzt in einem Psychiatrischen Krankenhaus in Algerien das System der „Sozialtherapie“. Wie ging er da vor?
Marie Cravageot: „1953 führte Frantz Fanon als Chefarzt im psychiatrischen Krankenhaus von Blida-Joinville in Algerien eine „Sozialtherapie“ ein, die mit den damaligen kolonialen Praktiken brach. Er ging dabei so vor, dass er große Veränderungen in der Arbeitsweise des Krankenhauses einführte. Er schuf z. B. ein humaneres Umfeld, indem er Gruppendiskussionen förderte, dem Pflegepersonal mehr Verantwortung übertrug und die Lebensbedingungen der Patienten verbesserte. Er berücksichtigte die Bedeutung der Kultur für die Psychologie seiner Patienten und erkannte die kulturellen Eigenheiten jedes Einzelnen an.
Er führte Aktivitäten wie eine Patientenzeitung, ein Café und einen Fußballplatz ein, um die soziale Interaktion und die Autonomie der Patienten zu fördern. Er half bei der Restaurierung der Moschee und erkannte damit die Bedeutung der Spiritualität für einige Patienten an. Nach und nach unterstützte er die algerische Widerstandsbewegung im Untergrund. Fanon versuchte die psychiatrische Klinik in einen Ort des Lebens umzuwandeln, indem er die individuellen und kollektiven Bedürfnisse seiner Patienten berücksichtigte und sich gleichzeitig in den Kontext des Kampfes für die Unabhängigkeit Algeriens einfügte.“
Seine Arbeit dort ging auch in seine Schriften ein. Können Sie da ein Beispiel nennen?
Marie Cravageot: „Das Werk von Frantz Fanon hat mehrere Generationen von Antikolonialisten, Bürgerrechtlern und Spezialisten für postkoloniale Studien geprägt. Seit der Veröffentlichung seiner Bücher (Peau noire, masques blancs, 1952; L’An V de la révolution algérienne, 1959; Les Damnés de la terre, 1961) war bekannt, dass viele seiner Schriften, vor allen Dingen seine psychiatrischen Schriften, unveröffentlicht oder unzugänglich bleiben würden.
Dieses Material bildet den Kern des Buches ‚Ecrits sur l’aliénation et la liberté‘, das nach geduldiger Sammelarbeit und langen Recherchen von Jean Khalfa und Robert JC Young zusammengestellt und präsentiert wurde. Der Leser findet hier Fanons veröffentlichte wissenschaftliche Artikel, seine Dissertation in Psychiatrie sowie einige unveröffentlichte Texte und Texte, die in der Hauszeitung des Krankenhauses in Blida-Joinville, wo er von 1953 bis 1956 arbeitete, veröffentlicht wurden.

Ebenfalls enthalten sind zwei während seines Medizinstudiums verfasste Theaterstücke (‚L’Œil se noie‘ und ‚Les Mains parallèles‘), die Korrespondenz, die gefunden werden konnte, sowie einige Texte, die nach 1958 in El Moudjahid veröffentlicht wurden und nicht in ‚Pour la révolution africaine‘ (1964) aufgenommen wurden. Diese bemerkenswerte Sammlung wird ergänzt durch den Briefwechsel zwischen François Maspero und dem Schriftsteller Giovanni Pirelli über ein Projekt zur Veröffentlichung von Fanons gesammelten Werken sowie durch eine fundierte Analyse von Fanons Werk. Die Veröffentlichung dieser Schriften über Entfremdung und Freiheit stellt ein echtes Verlagsereignis dar, da sie einen neuen Blick auf Fanons Denken ermöglichen und ihre Bedeutung sowohl im psychiatrischen als auch im politischen Bereich nach wie vor aktuell ist.
Das Buch vereint wissenschaftliche Texte, Zeitungsartikel, Theaterstücke und Briefwechsel und bietet einen umfassenden Überblick über Fanons Gedanken zu Entfremdung und Freiheit, insbesondere im kolonialen Kontext. In den wissenschaftlichen Artikeln und seiner Dissertation in Psychiatrie untersucht Fanon die Verbindungen zwischen Psychologie und Gesellschaft, insbesondere im Kontext der Kolonialisierung. Seine Zeitungsartikel geben Einblick in Fanons klinische Praxis und seine Überlegungen zur Psychiatrie. Die Theaterstücke zeugen von Fanons schriftstellerischem Talent und seiner Reflexion über das Menschsein. Diese Sammlung trägt zur Vollendung der Ausgabe der gesammelten Werke Fanons bei, indem sie seltene und bisher unveröffentlichte Texte zusammenstellt. Durch die Präsentation dieser unterschiedlichen Schriften ermöglicht das Buch ein tieferes Verständnis von Fanons Denken, sowohl in Bezug auf seine psychiatrischen als auch auf seine politischen Aspekte.“
Fanons zentrales Thema ist die Analyse und Überwindung von Rassismus und Kolonialismus, doch die Behandlung dieser Phänomene ändert sich in Fanons Denken durch seine aktive Teilnahme am Algerienkrieg und seine politischen Erfahrungen. Können Sie das erklären?
Marie Cravageot: „Tatsächlich entwickelt sich Frantz Fanons Denken über Rassismus und Kolonialismus infolge seines Engagements im Algerienkrieg signifikant weiter. Ursprünglich analysierte Fanon diese Phänomene aus einer theoretischen und psychologischen Perspektive, doch seine direkte Erfahrung mit kolonialer Gewalt und dem Kampf für die Unabhängigkeit veränderte seinen Ansatz. Vor seiner Beteiligung am Algerienkrieg untersuchte Fanon Rassismus und Kolonialismus auf theoretische Weise und konzentrierte sich dabei auf ihre psychologischen Auswirkungen auf Individuen.
Er untersuchte, wie die Kolonialisierung sowohl den Kolonisierten als auch den Kolonisator entfremdet. Seine Werke, wie ‚Peau noire, masques blancs‘ (Schwarze Haut, weiße Masken), analysieren die Auswirkungen von Rasse und Kolonialismus auf die Identität. Fanons Teilnahme am Algerienkrieg brachte ihn dazu, Gewalt als eine notwendige Antwort auf die koloniale Gewalt zu betrachten. Er argumentierte, dass der Kolonisierte, der durch den Kolonisator seiner Menschlichkeit beraubt wurde, Gewalt anwenden muss, um sich zu befreien und seine Würde zurückzuerlangen. Fanons Teilnahme am algerischen Kampf machte ihm die Komplexität des Entkolonialisierungsprozesses bewusst. Er untersuchte die Auswirkungen der Kolonialisierung auf die Gesellschaft und die Psychologie des Einzelnen, aber auch die innere Dynamik der entkolonialisierten Gesellschaft.
Fanons Erfahrungen führten ihn dazu, die Bedeutung der politischen Aktion und des bewaffneten Kampfes im Kampf für die Unabhängigkeit zu betonen. Seiner Ansicht nach darf sich die Entkolonialisierung nicht auf eine rein formale Befreiung beschränken, sondern muss eine radikale Umgestaltung der sozialen und politischen Strukturen beinhalten. In Algerien kritisierte Fanon die koloniale Psychiatrie, die zur Herrschaft und Stigmatisierung der Algerier beiträgt. Er schlug einen alternativen psychiatrischen Ansatz vor, der auf den kulturellen und sozialen Kontext achtete und auf die Subjektivität der behandelten Person eingeht.“

Mit „Die Verdammten der Erde“ wurde er auch posthum zu einer zentralen Bezugsperson der US-amerikanischen Black-Power-Bewegung der späten 60er und frühen 70er Jahre, oder?
Marie Cravageot: „Ja, das trifft es ganz genau. „Die Verdammten dieser Erde“ von Frantz Fanon war in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren ein wichtiger Bezugspunkt für die Black-Power-Bewegung in den USA. Seine Analyse der kolonialen Gewalt, der Psychologie der Kolonisierten und der Notwendigkeit eines radikalen Befreiungskampfes, hallten in den Black-Power-Aktivisten nach, die gegen den systemischen Rassismus und die Unterdrückung in den USA kämpfen wollten. In der Tat wurde Fanons 1961 veröffentlichtes Werk als kraftvolles Manifest für die Entkolonialisierung wahrgenommen, nicht zuletzt wegen des Vorworts von Jean-Paul Sartre, der Gewalt als Mittel zur Befreiung legitimierte.
Obwohl dieses Vorwort für manche schockierend war, trug es dazu bei, Fanons Werk international bekannt zu machen, insbesondere bei den Befreiungsbewegungen in den kolonisierten Ländern und bei Intellektuellen, die sich im antikolonialen Kampf engagierten. Black Power als Bewegung strebte die Emanzipation der schwarzen amerikanischen Gemeinschaft durch die Übernahme politischer und wirtschaftlicher Macht an, aber auch durch eine Bestätigung der schwarzen Identität und eine Infragestellung der bestehenden sozialen und rassischen Ordnung. In diesem Zusammenhang fanden Fanons Ideen, die Gewalt als Mittel zur Befreiung und die Notwendigkeit der Umgestaltung der Psychologie der Kolonisierten betonten, großen Anklang.
Andererseits wurde Fanons Werk von einigen kritisiert, insbesondere wegen seines als zu radikal empfundenen Ansatzes und seiner Betonung der Gewalt. Dennoch bleibt es ein Hauptwerk des postkolonialen Denkens und inspiriert weiterhin die Kämpfe für soziale Gerechtigkeit und Befreiung auf der ganzen Welt. So war Fanons ´Die Verdammten dieser Erde` ein zentraler Bezugspunkt für die Black-Power-Bewegung und beeinflusste ihre Sicht auf den Kampf gegen rassistische Unterdrückung und die Notwendigkeit radikaler Befreiungsaktionen.
Frantz Fanons Werk beeinflusst bis heute die zeitgenössischen Debatten über Herrschaft, Sprache und Befreiung, insbesondere im postkolonialen Kontext.
Seine Analysen von Gewalt, der Psychologie der Kolonisierten und der Sprache als Machtinstrument wirken bis heute nach und regen zu einer kritischen Reflexion über Herrschaftsstrukturen und Widerstandsstrategien an. Die Folgen dieser sprachlichen Dominanz zeigen sich bis heute in den postkolonialen Gesellschaften, in denen die aus dem Kolonialismus übernommenen Strukturen und Mentalitäten fortbestehen. Dies zeigt sich in verschiedenen Bereichen wie Bildung, Beruf und Medien. Die von Fanon angestellten Überlegungen können auch heute noch diskutiert werden.“
Uwe Blass

Über Marie Cravageot
Marie Cravageot unterrichtet französische Literatur in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften. Sie ist Expertin für die zeitgenössische Literatur Frankreichs.
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