6. August 2021

Jahr100Wissen“: Die Gründung der Hohnsteiner Puppenspiele

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit Ereignissen, die 100 Jahre zurückliegen und von besonderer Bedeutung für die Gesellschaft waren. Der Germanist und Märchenforscher Prof. em. Dr. Heinz Rölleke spricht im Interview über die Entstehung und Entwicklung des Kaspertheaters.

Prof. em. Dr. Heinz Rölleke – © Foto Andreas Fischer

1921 wurden im Erzgebirge von Max Jacob die Hohnsteiner Puppenspiele gegründet. Die dort eingesetzten Handpuppen sind stilprägend für das Kaspertheater des 20. Jahrhunderts. Woher kommt das Kaspertheater eigentlich?

Dr. Heinz Rölleke: „Max Jacob (1888-1967) war aktives Mitglied der um die vorige Jahrhundertwende im Zuge der Jugendbewegung entstandenen kulturell sehr einflussreichen „Wandervogel“-Gruppe, deren Ideale ihn prägten. Nachdem er eine Puppenspielaufführung gesehen hatte, die ihn tief beeindruckte, kaufte er einige Handpuppen, mit denen er zum ersten Mal an seinem Geburtstag, dem 10. August 1921, vor Publikum spielte. Er scharte eine Künstlergruppe um sich (u. a. Puppenspieler, Holzbildhauer, Kostümbildner), die bald unter dem Namen „Kasperfamilie“ bekannt wurde.

Sie entwickelten die Hardensteiner Puppenspiele, die nach ihrem Umzug auf die Burg Hohnstein in der sächsischen Schweiz als „Hohnsteiner Puppenspiele“ schnell in ganz Deutschland und bald auch international bekannt wurde. Die Kasperfamilie schuf stilprägende Handpuppen vornehmlich aus Holz, die als Typen alsbald überall Nachahmung fanden. Vor allem die Hauptfigur aller Spiele, der Kasper, wurde zu einer allbekannten Erscheinung mit stereotypem Lachgesicht, überlanger Hakennase und seiner roten Zipfelmütze.

Die Ursprünge des Kaspertheaters, wie es sich in festen Formen zu Ende des 18. Jahrhunderts durchsetzte, sind vielfältig. Der Name Kaspar wurde wohl durch Casparus, den Mohren unter den Heiligen drei Königen, als Bezeichnung des typischen Spaßmachers übernommen und ist seit dem 15. Jahrhundert in Vorformen der neueren Gattung theatralischer Darbietungen nachweisbar, dem die Unesco jüngst den Rang eines immateriellen Kulturerbes verlieh. Zum Zentralthema wird die Welt des Puppentheaters und seiner Hauptakteure vor und hinter der Bühne in Theodor Storms berühmter Novelle „Pole Poppenspäler“ (1874).

Ein Wendepunkt war die Ablösung der berühmten Wiener Hanswurst-Figur durch den Kasper. Genau in diesem Jahr etablierte sich in Köln das erste feste Puppentheater Deutschlands. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert wurde das Genre durch den von den Brüdern Grimm hochgeschätzten „Kasperlegrafen“ Franz von Pocci mit dem von ihm um 1840 verfassten und bebilderten „Larifari“-Geschichten und in der zweiten Hälfte durch Collodis genial erfundene, aus einem Scheit Holz geschnitzte „Pinocchio“-Figur und deren Abenteuer beeinflusst.

Kasper spielt immer die Hauptrolle. Von ihm wird erwartet, dass er immer seinen vielfach gefährdeten Weg zum Happy End geht, dass er mit der Stimme des Volkes (und diesem aus dem Herzen) spricht, dass er kleine Querelen mit Frau, Großmutter oder Freunden sowie Auseinandersetzung mit dem Polizisten stets durch Witz, aber auch durch Lügen, Täuschungen und Unverschämtheiten zu seinen Gunsten entscheidet, vor allem aber, dass man immer solche Züge an ihm entdecken kann, die ihn rundweg sympathisch machen und damit eine Identifikation des Publikums mit ihm bewirken. Besonders die kindlichen Zuschauer belegen das durch ihr oft lautstarkes Eingreifen in den Gang der Handlung: „Kasper, Vorsicht! Hinter dir taucht das Krokodil (die Hexe, der Teufel) auf!“

Der Kasper, für Kinder vieler Generationen Held und Vorbild – © OMK Oliver Klamke

Welche anderen Figuren gehören denn noch dazu?

Dr. Heinz Rölleke: „Genau wie die Hauptfigur sind auch die anderen fast immer gleichbleibenden Akteure unverändert feststehende Typen (durchaus mit dem Personal mancher TV-Krimiserien vergleichbar): die Grete, die Großmutter, der Sepp(el). Der Polizist, der Teufel, die Hexe, das Krokodil. Ihre Rollen bleiben in den Grundzügen immer dieselben. Sie sind sämtlich nur auf den Kasper bezogen und bleiben im Unterschied zu ihm Randfiguren wie die Funktionsträger im Märchen, die kein eigenes Interesse beanspruchen.“

Woher stammten die Geschichten?

Dr. Heinz Rölleke: „Das Kaspertheater mit seinen Handpuppenfiguren bedient sich verschiedenster Quellen aus alter und neuer Zeit von der Commedia dell‘ arte über ältere Trivialliteratur wie zum Beispiel anonym überlieferten Volksbüchern bis hin zu Kaspergeschichten verschiedenster Autoren. Das so zustande gekommene buntscheckige Repertoire entwickelt seine Stoffe eher aus Alltagsszenen oder aus erzieherischem Material wie etwa die Aufführungen des Verkehrskaspers durch die Polizei.

Es unterscheidet sich gravierend von den Spielplänen der arrivierten Marionettentheater mit seinen durch Fäden gelenkten Figuren, die sich traditionell mit Stoffen aus der Mythologie, aus der Bibel, aus klassischen Dramen und großen Opern speisen. Das kann man bis hin zu den erfolgreichen Inszenierungen der Steinauer „Holzköppe“ und der „Augsburger Puppenkiste“ beobachten, die neuere Figuren wie Jim Knopf und Formen (auch der medialen Verbreitung) entwickelten.

Wie entwickelte sich das Kaspertheater zu einem reinen Kindertheater?

Dr. Heinz Rölleke: „Genau wie die Volksmärchen waren Kasperspiele früher ausschließlich als Lektüre und in szenischer Umsetzung für Erwachsene bestimmt. Erst als man in der Zeit diese Kunstformen als unseriös ablehnte, flüchteten sie sich mehr und mehr in die Kinderstube, der man in jener Epoche auch erstmals ernsthaftes Interesse abgewann. In diesem Zuge wertete man Märchen und Puppenspiele als kindgerecht, und immer mehr Kinder stellten auch schon in einem Alter, wo sie noch nicht lesen können, den Rezipientenkreis, ohne dass Erwachsene ihr Interesse an Märchen und Puppenspielen ganz verloren hätten.

Das zeigt sich bis heute am vielfältigen Zugang einer immer größer werdenden Menge von interessierten Erwachsenen jeden Alters zur Welt und zum Geheimnis der Märchen ebenso wie etwa am begeisterten Zulauf, den Kasperspiele in Pflege und Altersheimen verzeichnen.

Im Zuge dieser Entwicklungen tritt die Verwandtschaft zwischen Märchen und Kasperstücken immer deutlicher zutage. Man kann etwa die seit dem 16. Jahrhundert berühmte und allseits bekannte Figur des Tapferen Schneiderleins weitgehend im „Kasperle“ (wie er seit seiner Einwanderung in die Kinderstube mit einer Diminutivendung genannt wird) wiedererkennen: Er allein wird wichtig genommen und bietet vor allem Kindern ein einfaches Identifikationsangebot.“

Noch heute gibt es verschiedene Puppenspielerfamilien in Deutschland, die das Kaspertheater fortführen. Können die „Tri-tra-trullala-Geschichten“ im digitalen Zeitalter noch bestehen?

Dr. Heinz Rölleke: „Man kommt immer mehr zu der Erkenntnis, dass Märchen für die kindliche Entwicklung in vieler Hinsicht wichtig und eigentlich unverzichtbar sind (Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen). Ähnliches gilt für das Kasperletheater auch noch oder gerade im digitalen Zeitalter. Beide Gattungen bedeuten erste Begegnungen mit Literatur, ermöglichen Kindern, sich in fremde Charaktere einzufühlen, mit ihnen zu leiden, sich mit ihnen zu freuen, helfen bei der Entwicklung ihrer Fantasie und Kreativität, denn sie müssen die typenhaften Figuren der Märchen und des Puppenspiels ja sich selbst in ihrer Vorstellungskraft imaginieren, sie sozusagen mit individuellem Innenleben füllen, in das die Texte selbst nie einen Einblick geben.

Sie vermitteln ein manchmal brutal anmutendes, aber immer ehrliches Bild der Welt, in der man sich mit dem durch frühkindliche Lektüre vermittelten fundamentalen Optimismus leichter zurechtfindet. Sie lassen das Kind durch entsprechende Situationen und Szenen ahnen und verinnerlichen, dass es nie ganz ausweglose Lagen gibt. Man kann sich selbst oft auf überraschende Weise helfen oder man kann um fremde Hilfe bitten und diese (von wem auch immer) annehmen. Das Märchen und in kleinerem Horizont auch das Kasperletheater sind von unschätzbarer Bedeutung und gänzlich unersetzlich.“

Uwe Blass

 

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