25. März 2021

Obdachloser AJ: Eine neue Jacke, aber noch keine Wohnung

Der Foto-Designer und ehemalige Pfarrer Taro Kataoka hat vor Wochen per Zufall den abdachlosen AJ alias Thomas auf der Platte in Elberfeld kennen gelernt. Das Schicksal des Ex-Häftlings berührte ihn zutiefst. Seither hat er sich entschlossen, AJ ein Stück weit zu begleiten - auf den Weg zurück in die Gesellschaft. Und AJ macht Fortschritte, muss aber immer wieder auch Rückschläge wegstecken, wie Taro Kataoka von ihm erfährt.

AJ mit seiner neuen, warmen Jacke – © Taro Kataoka

„Kurz-Besuch bei AJ. Es ist bereits unsere neunte Begegnung. COVID-19 sorgt dafür, dass der obdachlose Wuppertaler auf seiner Wohnungssuche eine Absage nach der anderen bekommt. Zu allem Überfluss sei in der vergangenen Woche ein Passant an ihm vorbei gegangen und dann noch einmal zurückgekehrt. Er habe sich vor ihm aufgebaut und ihn barsch aufgefordert: „Geh arbeiten!“ 

AJ erklärte, er habe sich sehr zusammenreißen müssen, um nicht ausfallend zu werden. Ich bin zutiefst erschüttert, wie unsensible manche Menschen sind und mit welchen Respektlosigkeiten obdachlose Mitbürger offensichtlich auf der Straße zu kämpfen haben. 

AJ sehnt sich danach, von der Platte wegzukommen und endlich arbeiten gehen zu können. Ich habe ihm meinen größten Respekt dafür ausgesprochen, dass er sich nicht provozieren ließ und ruhig blieb.

Die achte Begegnung

Es ist wieder Sonntag, Zeit für einen weiteren Besuch bei AJ in der Elberfelder Innenstadt. Unsere achte Begegnung. Es ist naß-kalt. Die wenigen Momente, in denen die Sonne durchscheint, machen das Wetter auch nicht besser. 

Wie immer genießen wir zuerst gemeinsam einen Kaffee. Die Mitarbeiter der Pizzeria gegenüber, von der wir unseren Kaffee beziehen, kennen uns bereits und begrüßen uns freundlich.

Auch heute unternehmen wir einen Spaziergang durch die Stadt. Auf meinen Wunsch hin zeigt mir AJ die Suchthilfestation „Gleis 1“. Sie befindet sich hinter dem Bahnhof in der Nähe der Kluse. 

Als wir ankommen, ist alles geschlossen und verlassen. Aber ich verschaffe mir einen Eindruck und bin bei aller Tragik, die eine solche Station nötig macht, begeistert, dass es eine solche soziale Einrichtung überhaupt gibt. 

Ein Teil der Gebäudewand ist den Drogenabhängigen gewidmet, die ihrer Sucht zum Opfer gefallen sind. Einzelne Backsteine wurden eingefärbt und mit den Vornamen der verstorbenen Mitbürger versehen. 

Auf dem Gelände steht ein Pavillon unter den wir uns stellen, weil es anfängt zu regnen. Dabei fragt mich AJ, wie ich Thematik Drogenabhängigkeit gegenüberstehe und ob es mich nicht schockieren würde, wenn ich abhängige Menschen sehe. Nein, es schockiert mich weniger, auch wenn ich von der Not der Betroffenen ergriffen bin. 

der obdachlose AJ vor der der Suchtberatung „Gleis 1“ – © Taro Kataoka

AJ berichtet mir, dass er früher gut an den Süchtigen verdient hatte,  sich selbst aber nur ein einziges Mal einen Schuss gesetzt habe. Gott sei Dank habe der ihm aber nichts gegeben, weswegen er nie in die Gefahr geraten sei, selbst abhängig zu werden. 

Ich spüre, dass der Ort, den er zum Duschen und zum Arztbesuch aufsucht, ansonsten bei ihm Unbehagen auslöst. Daher verlassen wir ihn trotz des strömenden Regens.

Zurück am Stammplatz wärmen wir uns an einem weiteren Becher Kaffee. Wir haben Glück, denn die Bedienung der Pizzeria macht uns die Becher randvoll. Nach etwas Smalltalk verabschiede ich mich für heute von AJ.

Die siebte Begegnung

Es ist wieder Sonntag und ich fahre nach Elberfeld, um AJ zu treffen. Nach einem gemeinsamen Kaffee und etwas Smalltalk machen wir uns auf einen Spaziergang durch die Stadt. 

Auf dem Weg beginnt AJ, von seiner Kindheit zu erzählen. Es ist bewegend und erschütternd zugleich. Es sprudelt nur so aus ihm heraus, dass seine Kindheit äußerst traurig gewesen ist. Der prügelnde Vater hat ihm sein linkes Trommelfell ruiniert, weswegen er auf dem Ohr taub sei.

Deshalb wechsele ich auf seine rechte Seite, damit er mich besser verstehen kann. Als sogenanntes schwererziehbares Kind sei er recht früh in ein Kinderheim gekommen. Während der Zeit im Heim verstarb seine Mutter an Krebs. Diese Nachricht habe ihn dann so richtig aus der Bahn geworfen.

Noch immer hat er keine Wohnung, aber er kümmere sich intensiv darum, weil er von der Straße herunter und endlich wieder arbeiten gehen wolle.

AJ freut sich, dass ihn inzwischen so viele Menschen wiedererkennen. Dank an die STADTZEITUNG Wuppertal für die Berichte und Facebook. Und na klar, danke an alle Leser, die AJ ansprechen. Wenn er mir berichtet, wie viele Mitmenschen ihn in der vergangenen Woche angesprochen haben, strahlt er über das ganze Gesicht.

Die sechste Begegnung

Fünfter Sonntag, sechste Begegnung mit AJ. Ich habe AJ zunächst nicht angetroffen. Erst nach einer Stunde kam er vollgepackt mit zwei Plastiktüten voller Leergut wieder zu seinem Stammplatz. 

Er strahlt über beide Ohren wegen der Aussicht auf das Pfandgeld. Dabei wird es noch nicht einmal € 2,00 einbringen. Aber es ist eben Sonntag: der schlechteste Tag der Woche, um Spenden zu bekommen.

Bei einem Becher Kaffee berichtet AJ mir, was ihm in den letzten Tagen widerfahren war und worauf er letztlich stolz sei. Nachts hatte er ungebetenen Besuch in seiner Schlafunterkunft erhalten. 

Jemand durchwühlte seine Sachen, was er verständlicher Weise gar nicht amüsant fand. Diesen zur Rede gestellt, habe der Mann alles abgestritten. AJ habe sich gerade eben noch zusammenreißen können, um nicht handgreiflich zu werden, worauf er sehr stolz sei. 

AJ sitzt auf seinem Bett, um ihn herum seine Habseligkeiten. Hier wäre er beinahe beraubt worden – © Taro Kataoka

Unter Obdachlosen gilt eigentlich der Ehrencodex, dass man sich nicht an den Habseligkeiten eines anderen vergreift. Er hoffe sehr, dass ihm das nicht wieder passiere. 

AJ hat aber auch etwas Erfreuliches zu berichten. Jemand habe ihm völlig unvermittelt eine ganze Dose Tabak geschenkt. Darüber sei er sehr glücklich. Er, der weder Drogen noch Alkohol konsumiert, rauche nun einmal leidenschaftlicht gerne. Dieses Geschenk helfe ihm, die einsamen Stunden zu überstehen.

Heute Nachmittag ist es endlich soweit. Die Winterjacke, die eine Bekannte für den obdachlosen AJ gekauft hat, ist bei mir angekommen. Sofort habe ich mich auf den Weg nach Elberfeld gemacht und sie AJ überreicht. 

Seine Freude war riesig. Fast zu Tränen gerührt, hat er sie sogleich angezogen. Sie sitzt wie angegossen und hält ihn vor allem richtig warm. Herzlichen Dank an die Spenderin: Du bist großartig!“

Text Taro Kataoka

 

AJ alias Thomas – © Taro Kataoka

 

Über AJ alias Thomas

AJ alias Thomas, inzwischen 48 Jahre alt, hat eine sehr bewegte Geschichte hinter sich. Er wurde in Spanien geboren, kam er im Alter von einem Jahr nach Deutschland. Er verlor früh beide Elternteile und wuchs in Kinder- und Jugendheimen auf. Nach der Schule machte er eine Bäckerlehre.

AJ kam nie im normalen Leben an. Er geriet früh auf die schiefe Bahn, wurde immer wieder straffällig. Von Drogendelikten, über Körperverletzung bis hin zum Totschlag, was er heute zutiefst bereut.

Über dreißig Jahre seines Lebens verbrachte der gelernte Bäcker bislang im Gefängnis. Als er vor einigen Wochen aus der JVA entlassen wurde, stand er vor dem Nichts: Keine Wohnung, keinen Job, keine Perspektive.

Doch dank Menschen wie Taro Kataoka hat er neuen Mut geschöpft und ist jetzt fest entschlossen, seine Chance beim Schopf zu fassen!

 

Taro Kataoka – © privat

Über Taro Kataoka

Taro Kataoka – Jahrgang 1966 – ist japanisch-deutscher Abstammung, seit über 25 Jahren verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

Nach der mittleren Reife an einer japanischen Schule, hat er zunächst die Fachoberschulreife, dann das Abitur an deutschen Schulen gemacht. Anschließend erlernte er den Beruf des Bankkaufmanns.

Taro Kataoka leistete Zivildienst und arbeitete einige Jahre bei einem japanischen Unternehmen. Anschließend studierte er Theologie. Nach zehn Jahren im Pastorenberuf begann er ein Fotodesign-Studium und schloß dieses mit dem Diplom ab.

Die Kamera ist seither sein ständiger Begleiter, zunächst meist nebenberuflich im Bereich der Eventfotografie. Inzwischen arbeitet er selbständiger Fotodesigner und betreibt ein eigenes Fotostudio. http://www.kataoka-fotografie.de/

Als interkulturell aufgewachsener Mensch ist Taro Kataoka an anderen Kulturen interessiert. Er lernt gerne neue Menschen kennen und tritt mit ihnen in Interaktion.

Als gläubiger Christ liebt er Gott, seine Nächsten und das Leben. Ein Beispiel dafür sind Hilfstransporte mit einem 40-Tonnen- Lkw nach Südost-Europa, die er ehrenamtlich unternimmt. Mindestens einmal im Jahr ist er unterwegs, um Menschen mit Lebensmitteln und Kleidung sowie weiteren Hilfsgütern zu versorgen.

Nicht zuletzt ist Taro Kataoka Vorstandsmitglied des gemeinnützigen Vereins „Kinder-Tafel-Vohwinkel e.V., der die Kindertafel und den betreuten Spielplatz „Sternpunkt“ in Vohwinkel betreibt und betreut  http://www.kinder-tafel-vohwinkel.de

 

LESEN SIE AUCH – wenn SIE mögen:

Folge 1

https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2021/02/01/mein-bewegendes-treffen-mit-einem-obdachlosen/

Folge 2

https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2021/02/10/obdachloser-aj-sein-leben-unter-der-bruecke-die-fortsetzung/

Folge 3

https://www.die-stadtzeitung.de/index.php/2021/02/19/obdachloser-aj-wohnung-und-job-in-aussicht/

 

Hilfsinitiative „WEISSE HERZEN Wuppertal“

https://weisseherzen.wixsite.com/wuppertal

 

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