1. Februar 2021

Mein bewegendes Treffen mit einem Obdachlosen

Das Schicksal hat vielen von ihnen ohnehin schon übel mitgespielt. Jetzt im unfreundlichen Winter machen Obdachlose besonders harte Zeiten durch. Erst recht während des Corona-Lockdowns. Kaum Leute auf der Straße, noch weniger Kleingeld im Hut oder in der Bettel-Dose. Taro Kataoka, Dipl.-Fotodesigner und Vorstandmitglied des Vereins "Kinder-Tafel-Vohwinkel e.V.", hatte jetzt einen außergewöhnlichen "Kaffeeklatsch" mit dem Obdachlosen AJ. Eine Begegnung, die ihn sehr berührt hat.

Lebt auf der Platte und freut isch über jede Zuwendung: Der Obdachlose AJ – Taro Kataoka

Er heisst Thomas, wird aber AJ genannt. Der 48jährige hat eine sehr bewegte Geschichte hinter sich. In Spanien geboren, kam er im Alter von einem Jahr nach Deutschland. 

Schon früh verlor er beide Elternteile, wurde zum Heimkind. Über dreißig Jahre seines Lebens hat der gelernte Bäcker bislang im Gefängnis gesessen. Sein Strafregister reicht von Einbruch über Drogen- und Bandenkriminalität bis hin zu Totschlag. 

Er sei fanatischer Odin-Anhänger gewesen, habe kaum eine Demo ausgelassen und war gerne bei der „dritten Halbzeit“ mit dabei – bei handfesten Prügeleien unter Fußballhooligans. 

Vor zehn Monaten sei er aus der Haft entlassen worden. Seither hält sich der aus Heiligenhaus stammende AJ als Obdachloser in Wuppertal-Elberfeld auf –  er lebt, wie es im Jargon heißt, auf der Platte. 

Nachts schlafe er unter einer Wupperbrücke in einem Schlafsack, der ihn bis zu einer Temperatur von -30° Grad Celsius vor Erfrierung schütze. Diesen habe er geschenkt bekommen, wofür er äußerst dankbar sei. 

Tagsüber sitzt AJ in der Elberfelder Fußgängerzone und hofft auf den einen oder anderen Euro. Das Betteln fällt ihm nicht leicht. AJ: „Schnorren ist nicht meins. Auch pöbeln nicht. Ich bin inzwischen ein ruhiger Mensch geworden. Selbst dumme Sprüche wie ‚geh doch arbeiten‘ überhöre ich.“ AJ ist allem Anschein nach genügsam und friedfertig geworden. 

Damals, als er noch Drogendealer war, habe er in Saus und Braus gelebt. Doch heute habe er nur noch zwei Laster: Kaffee und Zigaretten. 

Ich habe ihn auf einen „Coffee to go“ eingeladen und mit ihm die eine und andere Zigarette geraucht. Vom Alkohol lasse er die Finger und Drogen habe er noch nie genommen, erklärt er glaubhaft. Das mache ihn nicht so abhängig von den Almosen, weil er nicht fast zwanghaft Geld für den nächsten „Schuß“ benötige, wie die meisten Drogensüchtige. 

Die beiden syrischen Wohltäter versorgen AJ mit einer warmen Mahlzeit – © Taro Kataoka

Jeden Tag bekomme er eine warme Mahlzeit, mal von den umliegenden Kirchen, mal von einer Pizzeria. Und einmal in der Woche könne er sogar in einer Kirche duschen. Das sei ihm besonders wichtig. „Ein bisschen Körperpflege muss einfach sein“, sagt er. Und in der Tat sieht AJ gepflegt aus.

Ich will von ihm wissen, ob er denn genug Kleingeld zusammenbekomme, um sich zu verpflegen? „Ja“, antwortet er, „unter der Woche ist das weniger ein Problem. Da kommen mit etwas Glück durchaus 30 Euro am Tag zusammen. Aber sonntags ist schlimm. Da hat kein Geschäft auf, niemand geht zur Arbeit.“ 

Und weil im Lockdown nur wenige Menschen sonntags den Weg in die Stadt finden, komme auch nur sehr, sehr wenig zusammen. Manchmal seien es nur drei Euro, mit denen er dann auskommen müsse.“

Plötzlich, wie aus dem Nichts, bleiben zwei Männer auf Lastenfahrrädern bei uns stehen. Sie fragen AJ, wie es ihm gehe und bocken dabei ihre „Fienchen“ auf. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was jetzt passiert. 

Doch dann geht mir das Herz auf. Die beiden Radfahrer sind ausländische Mitbürger. Sie sprechen gebrochenes, aber gut verständliches Deutsch. Sie öffnen die Wärme-Boxen an ihren Lastenrädern. Zum Vorschein kommen Chafing Dishs (Warmhaltebehälter) in denen sich Nudeln, Kartoffeln und Sauce befinden.

Sie fragen AJ, ob er Hunger habe und als dieser dies bejaht, füllen sie mit einer Kelle reichlich Nudeln, Kartoffeln und Sauce in eine mitgebrachte Plastikschale. Dazu gibt es Brot. 

AJ fängt an zu essen und scheint überglücklich zu sein. Während er es sich noch schmecken lässt, reichen ihm die beiden Männer Papiertaschentücher, Bonbons, Schokolade und Kaffee. 

Es stellt sich heraus, dass die beiden Spender Syrer sind. „Wir haben den Krieg erlebt. Deutschland hat uns geholfen. Jetzt helfen wir hier armen Menschen“, sagt der eine. Ich bin gerührt.

Die Männer kommen vom Charity-Verein „Wuppertaler Weiße Herzen e.V.“. Eine ältere Passantin sieht, wie die beiden AJ versorgen und spendet spontan für den Verein, weil sie es gut finde, dass Obdachlosen geholfen werde.

Nachdem die beiden Wohltäter weitergefahren sind, sagt AJ: „Ich bin als Assi geboren und werde als Assi sterben.“ Ich versuche ihm klarzumachen, dass es Hoffnung für jeden Menschen gibt. Doch daran glaube er nicht. Ihn hole seine Vergangenheit immer wieder ein. 

So wache er oft nachts schweißgebadet auf. Vor allem der Totschlag, den er begangen habe, lasse ihm keine Ruhe. Daran ändere auch die abgesessene Haftstrafe nichts. 

Und so frage ich ihn, ob er heute an irgendetwas glaube. Er schüttelt den Kopf: „Nein. Ich glaube an gar nichts. Schon gar nicht an einen Gott da oben.“ 

Dieser Wuppertaler sucht regelmässig den Kontakt zu AJ – © Taro Kataoka

Ich lasse nicht locker, frage ihn, ob er denn nicht in der Kirche, in der er versorgt werde, einen Ansprechpartner habe, bei dem er sich in einem Vieraugengespräch all das Belastende von der Seele reden könne?

Das habe er noch nicht in Erwägung gezogen, sagt AJ. Und er habe auch wenig Interesse daran, dass ihm jemand ‚ein Schnitzel an die Backe erzähle‘. Er sei ja auch gar nicht getauft. 

Ich spüre eine gewisse Skepsis und Abneigung, wenn es um die Themen Kirche, Glaube und Gott geht. Aber irgendwie gibt er mir das Gefühl, dass er sich irgendwann doch mit seinen moralischen Nöten an einen Seelsorger wendet.

Ein junger Mann bleibt stehen und begrüß AJ freundlich, fast kameradschaftlich. Sie unterhalten sich über dies und das und der Passant fragt AJ auch nach seinem Befinden. Hinterher erzählt mir der Obdachlose, dass dieser junge Wuppertaler ihn schon oft besucht habe und ihn mal zu einem Kaffee und mal zu einer Pizza eingelade.

Ich bin positiv überrascht, dass es doch noch den einen oder anderen Menschen in der Stadt gibt, dem Obdachlose nicht egal oder sogar lästig sind. Menschen, die ein offenes Ohr für ihre Nöte haben, sich mit ihnen unterhalten und sich um sie kümmern.

Für heute verabschiede ich mich von AJ. Aber ich werde ihn ganz sicher wieder auf der Platte besuchen.

Text: Taro Kataoka

https://weisseherzen.wixsite.com/wuppertal

Die Betteldose, in der sonntags nur wenig Geld landet… © Taro Kataoka

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