Wolfgang Nielsen: Hundebiss stellte sein Leben auf den Kopf

"Hand aufs Herz" - Wolfgang Nielsen, Chef und Mitbegründer der "Wuppertaler Tafel", ist für jeden Tag dankbar. Ein Schicksalsschlag gab seinem Leben eine völlig andere Wendung...

Tafel-Chef Wolfgang Nielsen (l.) und der Film-Star Christoph Maria Herbst, sein prominentester Unterstützer – © Paul Coon

Ein Hundebiss hat das Leben von Wolfgang Nielsen völlig auf den Kopf gestellt. Mit einer bakteriellen Infektion lag er fast ein Jahr im Krankenhaus, rang zeitweise mit dem Tod. Mit 28 Jahren, in einem Alter, in dem viele erst mit ihrer Karriere starten, wurde der Versicherungs-Kaufmann und Manager Frührentner. Da entschloss sich Wolfgang Nielsen, den Rest seines Lebens in den Dienst einer guten Sache zu stellen. 1995 gründete er die Wuppertaler Tafel – eine Erfolgsgeschichte und sein Lebenswerk. Peter Pionke unterhielt sich mit dem engagierten Tafel-Chef, der dafür sorgt, dass in Wuppertal niemand hungern muss…

DS: Wann sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, den Tisch für Obdachlose und bedürftige Menschen zu decken?

Wolfgang Nielsen: „Das war 1991. Da habe ich den Geschäftsführer der New Yorker Charity-Organsiation ‚City Harvest‘ im Fernsehen gesehen. Von dem Moment an war ich vom Tafel-Virus befallen. 1993 wurde dann in Berlin die erste Tafel gegründet und im März 1995 die Wuppertaler Tafel. Wir haben dann 14 Tage gebraucht, um unseren Plan in die Tat umzusetzen. In der alten Margarinefabrik in der Steinbeck gab es eine Kantine, dort haben wir warmes Essen an Bedürftige ausgegeben. Damals gab es mehr Obdachlose in Wuppertal als heute. Die Kantine war immer voll. Sie war damals von 8 bis 18 Uhr geöffnet. Auch als so eine Art Wärmestube. Später haben wir dann feste Essenszeiten eingeführt.“

DS: Wie viele Obdachlose gibt es eigentlich in Wuppertal?

Wolfgang Nielsen: „Wir leben Gott sei dank in einer Stadt, in der viele caritative Einrichtungen gute Arbeit leisten und Obdachlosen ein Bett zur Verfügung stellen. Viele kommen auch bei Freunden und Bekannten unter. Im Winter übernachten maximal ein Dutzend Menschen im Freien. Sie verraten ihre Schlafplätze in der Regel nicht. Wir wissen aber, dass Obdachlose in einem alten Kanal an der Wupper übernachten. Einer schläft in einem Aufzugsschacht, weil es dort relativ trocken und warm ist. Im Sommer leben mehr Leute auf der Straße.“

DS: In anderen Städten muß man sich als Bedürftiger ausweisen. In Wuppertal nicht. Warum?

Wolfgang Nielsen: „Wir bekommen zum einen reichlich Lebensmittel gespendet, zum anderen kostet es viele Menschen ohnehin schon eine große Überwindung, zu uns zukommen: Da wollen wir sie nicht auch noch dazu zwingen, ihre Not und Bedürftigkeit buchstäblich nachzuweisen.“

DS: Was sind das für Leute, die für ein warmes Essen zu Ihnen kommen?

Wolfgang Nielsen: „Das sind häufig Menschen, die Altlasten haben oder nur eine kleine Rente bekommen. Es kommen immer mehr Rentner und Langzeitarbeitslose zu uns. Oder junge Leute, die ihre Ausbildung geschmissen und den Anschluss verpasst haben. Aber inzwischen kommen auch viele Flüchtlinge.“

DS: Wie unterscheiden sich die Menschen, die regelmässig zu Ihnen in die Tafel kommen, von denen, die Sie tagtäglich mit dem Sozialmobil vor Ort mit Essen versorgen?

Wolfgang Nielsen: „Eigentlich gar nicht. Vielen ist der Weg zur Tafel einfach zu weit, und sie haben auch kein Geld, um Busse oder die Schwebebahn nutzen zu können. Diesen Menschen kommen wir dann mit unserem Sozialmobil entgegen. Wir fahren bestimmte Stellen in Wuppertal an und geben Essen aus. Auf uns warten dann viele ältere Menschen und Langzeitarbeitslose, die dankbar sind, dass sie eine warme Mahlzeit bekommen. Manchen wurde auch der Strom abgedreht, weil sie die Strom-Rechnung nicht bezahlt haben, die können dann zuhause gar nicht kochen. Die sind dann heilfroh, wenn sie von uns eine warme Mahlzeit erhalten. In Wuppertal soll niemand hungern oder betteln müssen. Dafür stehe ich morgens auf.“

DS: Sie haben eine Vielzahl an Mitarbeitern. Was unterscheidet die Tafel von einem ganz normalen, mittelständischen Unternehmen?

Wolfgang Nielsen: „Was das Personal angeht, haben wir schon eine ganz besondere Mischung. Jeder hat seine eigene Geschichte. Wir haben neben Ehrenamtlern 110 Mitarbeiter: Angestellte, 1,60 €-Jobber und Mitarbeiter aus einem neuen Programm namens ‚Soziale Teilhabe‘. Das sind Leute, die eine Berufsausbildung haben, dann aber in der Langzeitarbeitslosigkeit gelandet sind. Also völlig unterschiedliche Menschen. Manche können sich gar nicht an einen geregelten Tages- und Arbeitsablauf gewöhnen. Wir sind da geduldig, zeigen Verständnis. In einem normalen Unternehmen würden solche Leute sofort entlassen.“

DS: Also benötigen Sie in Ihrem Job ein großes Herz?

Wolfgang Nielsen: „Ja, da ist so. Wir haben Leute, die drogen- oder alkoholabhängig waren. Die fallen hin, dann muss man ihnen wieder aufhelfen und dann fallen sie wieder, und wir helfen ihnen wieder auf die Sprünge. Die Mühe lohnt sich. Bei uns ist jetzt ein junger Mann gelandet, der eine Kochlehre geschmissen hat und abgehauen ist. Er bekommt bei uns die Chance, wieder Fuß zu fassen, weil sich unser Kantinenleiter intensiv um ihn kümmert. Schon sein Opa und sein Vater waren bei uns. Sein Vater hat sich sogar inzwischen erfolgreich selbständig gemacht. Darüber freue ich mich. Und solche positiven Fälle gibt es immer wieder. Das spornt uns an.“

Wolfgang Nielsen im Lager der Wuppertaler Tafel – © Wuppertaler Tafel

DS: Handelt es sich bei den Besuchern der Tafel eher um Dauergäste oder mehr um Menschen, die vorübergehend in eine finanzielle Schieflage geraten sind?

Wolfgang Nielsen: „Das ist völlig unterschiedlich. Manche kommen nur eine Zeit lang, weil sie gerade einmal einen finanziellen Engpass haben. Viele ältere Menschen und Langzeitarbeitslose kommen aber regelmäßig. Wir versuchen dann auch, den einen oder anderen aus dem Loch heraus zu holen, ihm eine Aufgabe zu geben, weil das ja auch sein Selbstwert-gefühl steigert. Zu uns kommen nur Leute, die wirklich Hilfe brauchen. Abzocker haben wir hier so gut wie gar nicht.“

DS: Ist die Akzeptanz für die Tafel in den letzten Jahren größer oder kleiner geworden?

Wolfgang Nielsen: „Die Tafeln in Deutschland erfreuen sich heute einer großen Akzeptanz. Das kann man allein daran sehen, dass sich viele Großunternehmen voll damit identifizieren. Das fängt an mit Daimler-Benz, die haben den ersten 100 Tafeln ein Auto geschenkt. Das sieht man an der Metro, die den Bundesverband der Tafeln seit Jahren großzügig unterstützt. Discounter wie Lidl stellen den Tafeln regelmäßig ihre Überproduktionen zur Verfügung. Allein über die Lidl-Pfand-Automaten sind 12 Millionen Euro für die Tafeln zusammen gekommen.“

DS: Was entgegnen Sie Leuten, die sagen: „Mir wird auch nichts geschenkt, die Obdachlosen sollen lieber arbeiten gehen“?

Wolfgang Nielsen: „Das halte ich für dummes Geschwätz. Wenn jeder die Chance hätte, einen bezahlten Job zu bekommen, von dem er leben könnte, dann würde ich diesen Leuten recht geben. Aber wir werden nie wieder eine Vollbeschäftigung in Deutschland haben. Und so wird es immer wieder Menschen geben, die arbeitslos sind und unsere Unterstützung brauchen. Die Leute, die so reden, können ja gerne ein paar Arbeitslose einstellen. Ein sozialer Absturz kann so schnell gehen: Plötzlich bezieht man nur noch Hartz IV und steht dann früher oder später bei uns in der Schlange.“

DS: Wie viele Wuppertaler Unternehmen unterstützen die Wuppertaler Tafel?

Wolfgang Nielsen: „Wir werden von rund 250 Wuppertaler Unternehmen unterstützt. Vom Einzelunternehmer bis hin zu Großunternehmen. Wir freuen uns über jede noch so kleine Spende. Aber natürlich wären wir nicht so groß, wenn es nicht die Jackstädt-Stiftung gäbe, oder EDE, die Stadtsparkasse, Schade & Sohn und Krankentransporte Kießling.“

DS: Sie sind gerade erst für drei weitere Jahre im Amt des Vorsitzenden bestätigt worden. Ist die Tafel ohne Wolfgang Nielsen eigentlich denkbar?

Wolfgang Nielsen: „Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass Sponsoren die Wuppertaler Tafel oft an meiner Person festmachen. Dann habe ich aber festgestellt, dass jede Tafel so einen Charakterkopf als Ansprechpartner hat. Wenn das der Tafel hilft, bin ich gern die Galionsfigur. Aber ich bin froh, dass ich überhaupt noch lebe und dass ich den Job hoffentlich noch ein paar Jahre machen kann. Aber eines ist ganz klar: Eine solche Aufgabe kann niemand allein stemmen. Da braucht man wie ich die Hilfe von einem motivierten Team.“

DS: Es geht um die gute Sache, trotzdem gibt es intern Querelen. So sind bei der letzten Wahl zwei Vorstandsmitglieder nicht mehr angetreten. Wie stehen Sie dazu?

Wolfgang Nielsen: „So etwas nimmt mich sehr mit. Mir sind die letzten 26 Jahre geschenkt worden. Und ich weiß nicht, wie viel Jahre mir noch geschenkt werden. Ich mache mir natürlich Gedanken über einen Nachfolger, der einmal meine Arbeit fortsetzt. Da wird jemand gebraucht, der sich nicht profilieren will, sondern für die Menschen da ist, die die Tafel dringend benötigen. Ohne Details zu nennen, kann ich nur sagen, dass mir interne Querelen und Eifersüchteleien sehr zu schaffen machen.“

DS: Wie viele Stunden pro Monat arbeite Sie eigentlich für die Tafel?

Wolfgang Nielsen: „80 Stunden arbeite ich bestimmt in der Woche. Ich bin ja auch jeden Tag da, auch am Wochenende. Aber ich empfinde das gar nicht als Belastung, weil ich mein Leben total auf die Tafel ausgerichtet habe. Die Arbeit macht mir nach wie vor Spaß und erfüllt mich. Man darf nicht vergessen, wie viele Menschen und Arbeitsplätze inzwischen an der Tafel hängen.“

DS: Der Film-Star Christoph Maria Herbst ist bekennender Tafel-Fan. Könnten Sie sich eine bessere Integrationsfigur als ihn überhaupt vorstellen?

Wolfgang Nielsen: „Auf keinen Fall. Dass Christoph Maria Herbst und seine Frau Gisi Heiligabend bei uns Essen ausgeben, ist eine tolle Geste, über die ich mich sehr freue. Er nimmt sich ja auch Zeit für unsere Gäste und hat für jeden ein paar persönliche Worte übrig. Das ist aber nur die eine Seite. Christoph Maria hat sich auch vor zehn Jahren voller Überzeugung für unseren Tafel-Spot zur Verfügung gestellt, der dann z.B. im CinemaxX lief, oder er hat uns ja auch einmal seine komplette Gage für einen Auftritt in der Stadthalle gespendet. Mit der Begründung: ‚Es gibt Menschen, die viel, viel weniger haben als ich.‘ Er hat sich damit eindeutig als Pate und Unterstützer der Tafel positioniert. Das macht mich stolz und glücklich.“

DS: Sind Sie mit der Unterstützung von Seiten der Stadt zufrieden oder sehen Sie da noch Luft nach oben?

Wolfgang Nielsen: „Wir haben ja bewußt eine Privat-Initiative gegründet und auf bürgerschaftliches Engagement gesetzt. Wir bekommen von der Stadt kein Geld, aber sie hat ja auch kein Geld und wir sind zum Glück auch nicht darauf angewiesen. Ich bin aber sehr zufrieden damit, dass nach den Oberbürgermeistern Hans Kremendahl und Peter Jung jetzt auch Andreas Mucke die Schirmherrschaft über die Tafel übernommen hat.“

DS: Bleibt da eigentlich noch Zeit für irgendwelche Hobbys?

Wolfgang Nielsen: „Die Wuppertaler Tafel ist meine Leidenschaft und auch mein Hobby. Ihr widme ich all meine Freizeit. Und das tue ich gern. Ich bin so ein wenig durch meine zwei Tanten geprägt. Sie waren beide Nonnen und ihr Leben lang für andere Menschen da. Eine ist leider verstorben. Die andere fahre ich manchmal spazieren und bereite ihr damit eine große Freude.“

DS: Und wenn jetzt noch die berühmte gute Fee um die Ecke käme und Sie hätten einen Wunsch frei, was würden Sie sich wünschen?

Wolfgang Nielsen: „Den Wunsch möchte ich splitten: Für mich persönlich wünsche ich mir Gesundheit. Für die Tafel wünsche ich mir eines Tages einen engagierten Nachfolger, der sie im Sinne der notleidenden Menschen fortführt.“

DS: Vielen Dank für das intensive Gespräch

 

Vita Wolfgang Nielsen

Wolfgang Nielsen wurde im März 1950 in Berlin geboren. Er kam 1960 nach Wuppertal. Nach der Schule machte er zunächst eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann.

Nach einem langen Krankenhausaufenthalt in Folge eines Hundebisses, wurde Wolfgang Nielsen zum Frührentner. Dennoch erhielt er 1980 ein Stipendium und studierte an der Deutschen Angestellten Akademie Betriebswirtschaftslehre. 1984 machte er seinen Abschluss und wurde Betriebsleiter eines großen Wohlfahrtverbandes.

1988 war Wolfgang Nielsen Mitbegründer des Vereins Allgemeiner Hilfskreis e.V. (AHK). Die caritavive Einrichtung verteilte Kleidung und Hausrat an Bedürftige.

Aus dem AHK ging 1995 die „Wuppertaler Tafel“ hervor. Sie gehörte damit zu den ersten zehn Tafeln, die von inzwischen 950 Einrichtungen dieser Art in Deutschland gegründet wurden.

Nach schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen wurde Wolfgang Nielsen Mitte der 90er Jahre zum zweiten Mal Frührentner. Seither kümmert er sich fast rund um die Uhr um die „Wuppertaler Tafel“. 2004 erhielt er den Ehrenamts-Preis „Wuppertaler“, 2006 den Verdienstorden NRW und 2008 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

 

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