„Meine Suppe ess ich nicht“ – Teil 2

„Meine Suppe ess ich nicht“ - Magersucht/Anorexia nervosa - Teil 2: Symptome/Kriterien.

Diplom-Psychologin Barbara Knoblauch – © Dirk Sengotta

Das Körpergewicht liegt bei selbst herbeigeführtem Gewichtsverlust mindestens 15% unter dem zu erwartenden Gewicht oder unter einem BMI (Body-Maß-Index = kg/m2) von unter 17,5 (Normalgewicht zwischen 24,9 und 18,5, Untergewicht unter 18,5). Möglicherweise, z.B. bei frühem Beginn der Magersucht, wurde das zu erwartende Gewicht durch weiteres Größenwachstum und unterbliebene Gewichtszunahme nie erreicht.

Der BMI wird bei Patienten und Patientinnen ab 16 Jahren zugrunde gelegt. Bei jüngeren Patientinnen sollten die BMI-Perzentilen angewandt werden. Die Magersucht ist eine Körperschemastörung. Die Erkrankten leiden unter einer deutlichen Wahrnehmungsverzerrung bezüglich des eigenen Körpers. Sie nehmen trotz knochiger Schultern, heftig hervortretenden Schlüsselbein- und Beckenknochen jede kleinste Fettansammlung am Körper wahr, ekeln sich davor, empfinden sich selbst bei existentiell bedrohlichem Untergewicht noch als zu dick.

Dieses Symptom ist letztendlich für die Diagnose entscheidender als das Untergewicht. Patienten mit Untergewicht ohne die Diagnose Magersucht können ihr eigenes Dünnsein erkennen und favorisieren ein anderes Idealgewicht als die an Magersucht Erkrankten. Diese verbergen zudem oft ihre eigenen Wunschvorstellungen bezüglich des Körpers und des Gewichts vor der Umwelt, da sie wissen, dass ihre Vorstellungen mit denen der Umwelt kollidieren.

Die Magersucht ist eine ernst zu nehmende, schwerwiegende Störung. Sie kann tödlich verlaufen. Bedingt durch das extreme Untergewicht entstehen körperliche Folgen und Schädigungen: Es zeigt sich eine Störung der Regulation der Hormone. So setzt meist bei den Patientinnen die Menstruationsblutung aus (Amenorrhoe), Unfruchtbarkeit kann entstehen. Bei Einnahme der Antibabypille wird das Ausbleiben der Menstruationsblutung durch die Entzugsblutung oft kaschiert. Bei den Jungen drohen Verlust von Libido und Potenz, Auch die Produktion anderer Hormone ist gestört.

Beginnt die Magersucht vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt, was Wachstumsstop, bei den Mädchen, fehlende Brustentwicklung, Ausbleiben der Monatsblutung etc. bedeutet, bei den Jungen ist meist die Entwicklung der Genitalien gestört.

Es ergeben sich zudem Herzprobleme wie verlangsamter Herzschlag, niedriger Blutdruck, niedriger Puls, Herzrhythmusstörungen, was im schlimmsten Fall zum plötzlichen Herztod führen kann. Es zeigen sich Veränderungen im Blutbild mit Unterzuckerung, Blutarmut, Störung der Elektrolyte etc.. Bei häufigem Erbrechen werden durch die Magensäure die Zähne angegriffen, was vermehrte Karies zur Folge hat. Zudem zeigen sich Magenschmerzen, Verstopfung und andere Darmprobleme. Es drohen Nierenversagen und Osteoporose. Durch Fehlen des subkutanen Fettgewebes und Herunterfahren des Stoffwechsels sind die Patientinnen meist sehr kälteempfindlich. Sie verspüren oft Schwindel und drohende Ohnmacht, leiden meist unter trockener Haut.

Magersüchtige Patientinnen vermeiden zwar die Zufuhr von Nahrung, kontrollieren ständig die Kalorienzahl, disziplinieren sich in höchstem Maße, was Essen betrifft, leiden unter erheblichem Hungergefühl, zeigen sich andererseits den ganzen Tag mit Essen beschäftigt. Sie wälzen Kochbücher, studieren Rezepte, bekochen ihre Familien, servieren ihnen Mahlzeiten, weigern sich aber mit anderen zusammen zu essen.

Anfangs leiden die magersüchtigen Patienten unter heftigen Hungergefühlen. Erst mit fortgeschrittener Krankheit tritt eine wirkliche Appetitlosigkeit, das Fehlen von Hungergefühl ein. Die Disziplinierung der Nahrungszufuhr trotz erheblichen Hungergefühls führt zu einem Gefühl der Macht und Kontrolle und zu einer vermeintlichen Stabilisierung des Selbstwertgefühls.

Bei schwerwiegendem Krankheitsbild essen manche Patientinnen nur noch einen Apfel am Tag, der in kleine Stücke zerteilt, auf einem Teller serviert und ganz langsam verzehrt wird, dazu vielleicht noch ein trockenes Brötchen. Dazu werden rund 30 Abführtabletten und mehr zu sich genommen.

Ausschlaggebend für die Diagnose bleibt aber nicht die Kalorienzufuhr, die Härte der Diät, sondern die Körperschemastörung. Selbst wenn die Rippen nach langem Hungern erschreckend sichtbar sind, sich nur ein Loch in der Bauchgegend zwischen den hervorstehenden Beckenknochen zeigt, empfinden sich die Patientinnen noch als zu „fett“.

Barbara Knoblauch – Dipl.-Psych. /Psychotherapeutin

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