3. Dezember 2025Peter Pionke
Literaturnobelpreis für den Dramatiker George Bernard Shaw
Die Wissenschaftlerin Prof. Dr. Katharian Rennhak von der Bergischen Universität – © Auen60 PhotographyGeorge Bernard Shaw hat einmal gesagt: „Hohe Bildung kann man dadurch beweisen, dass man die kompliziertesten Dinge auf einfache Art zu erläutern versteht.“ Hat er das in seinen Werken geschafft?
Katharina Rennhak: „Ja, das ist so ein typischer Shaw-Spruch, der – nicht nur in der englischsprachigen Welt – oft zitiert wird. Wir motivieren damit ja auch gerne unsere Lehramtsstudierenden. Man braucht eben eine hohe Bildung, um komplizierte Sachverhalte nicht nur selbst zu erfassen, sondern auch anderen verständlich machen zu können. George Bernard Shaw war selbst kein Philosoph und hat die Welt nicht mit eigenen innovativen Theorien bereichert. Aber er studierte die großen Sozialphilosophen und Naturwissenschaftler seiner Zeit, las zum Beispiel Marx und Nietzsche und war fasziniert von der Evolutionstheorie, auch setzte er sich mit den Ideen von Thomas Carlyle und John Stuart Mill auseinander. Auf dieser Basis und bestens vertraut mit der modernen Theaterbühne verwandelte Shaw das britische Theater im ausgehenden 19. Jahrhundert in eine Stätte der Aufklärung. Seine Ideen- und Diskussionsdramen wollen die Welt nicht nur erklären, sondern auch politisch reformieren. Das war ganz im Sinne der Fabian Society, einer sozialistischen Vereinigung bürgerlicher Intellektueller, der Shaw sich anschloss und die – anders als Marx – das kapitalistische System von innen reformieren wollte.
© Bergische UniversitätShaws Ziel war es, gesellschaftliche Missstände und Heucheleien offenzulegen und sein Publikum dazu anzuregen, tradierte Wert- und Moralvorstellungen kritisch zu hinterfragen. Er macht abstrakte Ideen greifbar und lebendig, indem er glaubhafte Figuren auf die Bühne bringt und in eine spannende Handlung verstrickt. Dabei bekommen seine Figuren immer wieder die Gelegenheit, in einer pointierten Alltagssprache komplizierte politische und moralische Fragen – rund um die Themen Religion, Klassen- und Geschlechtergerechtigkeit sowie Sexualität – in oft witzigen und stets unterhaltsamen Dialogen vor dem Publikum ‚auszudiskutieren‘. Kurzum, ja! George Bernard Shaw hat das, was er über „hohe Bildung“ sagt, in seinen Werken selbst eingelöst.WW
1925 erhielt er den Literaturnobelpreis. Das Nobelpreiskomitee schrieb, sein Schaffen sei „sowohl von Idealismus als auch von Humanität getragen, dessen frische Satire sich oft mit einer eigenartigen poetischen Schönheit vereint“. Er revolutionierte das Theater mit seinem komödiantischen Drama und seinen sozialkritischen Stücken. Dabei brach er Tabus und stellte Konventionen in Frage. Können Sie mal ein Beispiel nennen, welches sein außergewöhnliches Werk verdeutlicht?
Katharina Rennhak: „Ja, das Nobelpreiskomitee bringt schon wirklich gut auf den Punkt, was George Bernard Shaws Stücke auszeichnet. Ich möchte gerne versuchen, das an einem konkreten Beispiel, nämlich Mrs. Warren’s Profession, zu verdeutlichen. Shaw wagt hier die Auseinandersetzung mit dem hochsensiblen Thema Prostitution und behandelt es weder voyeuristisch noch moralistisch, sondern sozialkritisch. Die Titelheldin, Kitty Warren, ist eine Frau, die aus höchster ökonomischer Not eine gesellschaftlich geächtete Überlebensstrategie wählt. Die Vorgeschichte, die Kittys Vergangenheit aufrollt, hören die Zuschauer quasi zeitgleich mit ihrer Tochter Vivie, die ihre Mutter erst spät kennenlernt. Das ist schon berührend, wenn Kitty von ihrer Vergangenheit erzählt und deutlich macht, dass alleinstehenden Frauen oft schlicht kein anderer Weg offensteht. Typischerweise wendet Shaw einen solchen Enthüllungsmoment und so eine auch von Armut und Leid geprägte Lebensgeschichte aber nicht ins Sentimentale. Kitty Warren ist nämlich – anders als viele ihrer literarischen Vorgängerinnen im viktorianischen Roman und Drama – eben keine reuige, verzweifelte und dem Tod geweihte arme Sünderin, sondern eine durchaus selbstbewusste Frau. Wie sich später herausstellt, betreibt sie mittlerweile sehr erfolgreich eine ganze Kette von Bordellen und hat so einigen Reichtum angehäuft.
Wenn man so will, sieht man hier Shaws Humanismus gepaart mit einer satirischen Wendung: Das Opfer des kapitalistisch-patriarchalen Systems rettet sich nicht nur, indem es nach dessen Regeln spielt, sondern wird schließlich selbst zu einer treibenden Kraft eben dieses Systems. In ‚Mrs. Warren’s Profession‘ erweist sich die Prostitution zudem als ein Geschäft, von dem sehr viele (daher immer nur scheinbar) respektable Bürgerinnen und Bürger profitieren, ohne dass sie dies jemals offen zugeben könnten. Prostitution erscheint so nicht als das Metier ‚gefallener Frauen‘, sondern als ein strukturelles Problem. Vivie, die eigentliche Heldin des Stücks, eine Verkörperung des ‚new woman‘-Ideals, entscheidet sich letztlich gegen alle bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsmodelle, die Frauen um 1900 offenstehen. Sie will weder vom Reichtum der Mutter profitieren, die inzwischen selbst zum heuchlerischen Establishment gehört, noch will sie eine bürgerliche Ehe eingehen – egal, ob aus Liebe oder zur finanziellen Absicherung.
Die junge Frau mit abgeschlossenem Mathematikstudium von der Universität Cambridge besteht vielmehr auf ihrer absoluten ökonomischen und emotionalen Unabhängigkeit und Integrität. Shaws Sprache ist vor allem in Momenten, in denen harte Realitäten und brutale Wahrheiten ausgesprochen werden, nicht nur pointiert und geistreich, sondern aufgrund der emotionalen Authentizität, die sie transportiert, auch von poetischer Kraft.“
Der berühmte Dramatiker und Politiker George Bernard Shaw (1936) – © gemeinfreiShaw lehnte zunächst das Preisgeld ab und sagte: „Ich kann Alfred Nobel verzeihen, dass er das Dynamit erfunden hat, aber nur ein Teufel in Menschengestalt hätte auf die Idee kommen können, den Nobelpreis zu erfinden.“ Was störte ihn denn so sehr?
Katharina Rennhak: „Ja, das ist auch so typisch Shaw. Man sieht wieder, wie er recht komplexe Problemkonstellationen wunderbar prägnant und brutal auf den Punkt bringt. Seine ablehnende Haltung gegenüber dem Nobelpreis war Ausdruck seiner Skepsis gegenüber jeglicher Verstrickung von Kapital, Kunst und Moral. Letztlich sagt Shaw ja, dass er es verzeihlich findet, wenn jemand mit einer Erfindung Geld verdient, die nicht nur positive Wirkungen entfaltet, sondern auch zur Ausübung von Gewalt und zu Kriegszwecken eingesetzt werden kann. Problematisch wird es, wenn mit einem so angehäuften Vermögen interessenlose Stiftungen gegründet werden. Shaws Bemerkung zielt dabei vor allem auf den moralischen Widerspruch zwischen Waffenhandel und einem internationalen Preis ab, der – so die Definition des Nobelpreises – diejenigen auszeichnet, „die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben“.
Zum einen hält es Shaw schlicht für verlogen, wenn sich Industrielle und Unternehmer, deren Geschäftspraktiken sich ausschließlich an den Gesetzen des Marktes und nicht an moralischen Kriterien orientieren, durch die Gründung einer gemeinnützigen Stiftung zu Wohltätern stilisieren. Umgekehrt wollte er als Sozialist für sein künstlerisches Werk kein Geld annehmen, das aus einem industriellen Vermögen stammte. Grundsätzlicher gedacht, befürchtet er, dass Kunstschaffende, Wissenschaffende und Friedenstiftende durch Institutionen wie den Nobelpreis Gefahr laufen, käuflich zu werden und so ihre Unabhängigkeit und Integrität zu verlieren. Interessanterweise kann man an Shaws Reaktion auf die Preisverleihung aber auch ablesen, um was für eine komplexe Problemkonstellation es sich hier handelt und wie sehr Shaw in Sachen Nobelpreis mit sich gerungen haben muss: Nachdem er den Nobelpreis zunächst ganz ablehnte, nahm er die Ehrung ja schließlich doch an und lehnte nur das Preisgeld ab. Auf die Breitenwirkung, die er als ein Künstler mit moral-politischem Anspruch dank dieser institutionellen Anerkennung entfalten konnte, wollte er offensichtlich doch nicht ganz verzichten.“
Er ist der einzige Schriftsteller, der sowohl einen Nobelpreis als auch einen Oscar gewonnen hat. Wofür hat er den denn bekommen?
Katharina Rennhak: „George Bernard Shaw war tatsächlich sehr lange der einzige Mensch, der den Literaturnobelpreis und einen Oscar gewonnen hat. 2016 ist ja dann auch noch Bob Dylan diese Ehre zuteilgeworden. Den Oscar gewann Shaw 1939 in der Kategorie ‚Bestes adaptiertes Drehbuch‘. Er hatte für eine große internationale Produktion seine erfolgreiche Sozialkomödie ‚Pygmalion‘ für die Leinwand adaptiert. Die Regisseure Anthony Asquith und Leslie Howard setzten seine Ideen meisterhaft um. Shaws Dialoge und seine scharfsinnige Sozialkritik blieben in dem sowohl künstlerisch als auch kommerziell großen Kinoerfolg weitgehend erhalten. Später wurde Shaws Drama dann ja bekanntlich – unter dem Titel ‚My Fair Lady‚– noch einmal als Musical adaptiert. Die auf dem Ovidschen Pygmalion-Mythos basierende Idee, dass ein Mann eine Frau nach seinen eigenen Vorstellungen formt (in Shaws Drama, indem er dem einfachen Blumenmädchen beibringt, wie eine Dame der gehobenen Gesellschaft zu sprechen), ist offenbar tatsächlich zeitlos.“
Shaw galt als schwieriger und widerspenstiger Mensch, bekannt für seinen scharfen Verstand, seine kritische Haltung und seine provozierende Persönlichkeit. Wodurch machte sich das bemerkbar?
Katharina Rennhak: „Shaw war zweifelsohne witzig und sein Idealismus und Einsatz für eine bessere Gesellschaft sind bewundernswert. Mit seiner moral-politischen Kompromiss- und Gnadenlosigkeit und seiner scharfen Zunge machte er sich aber nicht nur Freunde. In Bezug auf Shaws Persönlichkeit findet Fintan O’Toole, der irische Journalist und Kulturkritiker, dass George Bernard Shaw eher David Bowie als William Galdstone, eher Bob Dylan als Anthony Trollope ähnelt, und zwar insofern als er einer der ersten „great masters of self-invention“ war: „A nobody who captured the zeitgeist“. Shaw hat sehr früh die Wirkungsmechanismen der Massenmedien durchschaut und erkannt, dass Rollen nicht nur auf der Bühne gespielt werden, sondern überall. Er imaginiert also nicht nur literarische Figuren und Welten, sondern kreiert auch seine eigene Persona „GBS“ akribisch – nicht um seinem Publikum etwas vorzuspielen oder es zu täuschen, sondern um seine Ziele zu erreichen. Zum Heuchler wird er dabei deshalb nicht, weil er, so Fintan O’Toole, stets wie ein Magier agiert, der seine eigenen Tricks offenlegt.
Diese Art der Selbstinszenierung macht Shaw zu einem frühen Vertreter der celebrity culture. Das von ihm kreierte Kürzel GBS (von Pseudonym kann man kaum sprechen) wird eine globale Marke, die Shaw aus eigener Kraft und durch den geschickten Umgang mit allen ihm zur Verfügung stehenden Medien aufbaut. Sein Aussehen beispielsweise wirkt ikonisch. Auf den Abbildungen von Shaw, die massenhaft vervielfältigt und über den ganzen Erdball verteilt werden, wird insbesondere der lange rotbraune und später weiße Bart zum Wiedererkennungszeichen. Interessanterweise bezeugt auch das Oxford English Dictionary, dass der Begriff ‚Shavian‘, im Sinne von ‚ein Fan von G.B. Shaw‘, zuerst von Shaw selbst verwendet und verbreitet wurde. (Die Verwendung von ‚Shavian‘ im Sinne von ‚typisch für Shaw‘ und ‚so wie im Werk von Shaw‘ war da schon von anderen in Umlauf gebracht worden.) GBS war übrigens schon eine Marke, bevor Shaw ab den späten 1890ern langsam zum erfolgreichen Dramatiker wurde. In den Jahren davor machte sich Shaw bzw. GBS als Kulturkritiker, Journalist, Verfasser von Leserbriefen und politischer Redner für die Fabian Society einen Namen.
„Pygmalion – Romanze in 5 Akten“ – George Bernard Show – Suhrkamp-Verlag – 162 Seiten – ISBN-10: 351818928X – ISBN-13: 978-5318189283Die Sunday World konstatierte schon 1891: “Everybody in London knows Shaw. Fabian, Socialist, art and musical critic, vegetarian, ascetic, humourist, artist to the tips of his fingers, man of the people to the tips of his boots. The most original and inspiring of men – fiercely uncompromising, full of ideas, irrepressibly brilliant” (übersetzt: Jeder in London kennt Shaw. Fabianer, Sozialist, Kunst- und Musikkritiker, Vegetarier, Asket, Humorist, Künstler durch und durch, Mann des Volkes bis in die Zehenspitzen. Ein überaus origineller und inspirierender Mann – unnachgiebig kompromisslos, voller Ideen, ungemein brillant. (Zitiert nach Christopher Wixson).“
Inspiriert durch Literatur, wurde er sehr früh schon zum Vegetarier. Wie kam das?
Katharina Rennhak: „Shaw war seit seiner Teenagerzeit ein großer Fan des romantischen Dichters Percy Bysshe Shelley; und seine Entscheidung für den Vegetarismus hängt ganz eng mit seiner Faszination für Shelleys politische Dichtung und dessen radikale Kritik an sozialen Ungerechtigkeiten zusammen. In die Rolle des GBS soll Shaw erstmals bei einem Treffen der Shelley Society geschlüpft sein, als er verkündete „wie Shelley ein Sozialist, Atheist und Vegetarier“ zu sein. Shaw blieb sein ganzes Leben lang Vegetarier, erklärter Nichtraucher und trank keinen Alkohol. Seine Lebensweise war immer wieder Thema in den Medien und Shaw wurde nicht müde zu erklären, dass er dank seiner Abstinenz und seines Vegetarismus sparsam haushalten und zugleich seiner Gesundheit Gutes tun konnte. In seiner typischen Manier nutzte er das ausgeprägte öffentliche Interesse an seinem Lebensstil geschickt, um sich für den Tierschutz und die Schaffung eines staatlichen Gesundheitsservices einzusetzen und den medizinisch-industriellen Komplex zu kritisieren.“
Sie vertreten ja an der Bergischen Universität auch das EFACIS Center for Irish Studies in Wuppertal. Inwiefern kann man George Bernard Shaw als einen irischen Autor bezeichnen? Sein ganzes Schaffen ist ja eng mit London assoziiert.
Katharina Rennhak: „George Bernard Shaws Karriere begann in London, von wo aus er die meiste Zeit seines Lebens agierte. Geboren wurde er allerdings in Dublin, wo er auch die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte. Er wuchs ganz in der Nähe der berüchtigten Mietskasernenviertel auf, in denen die Dubliner Arbeiterklasse ihr Dasein fristete. Das Leben in diesen städtischen Slums war geprägt von Arbeitslosigkeit, Armut sowie einem generellen Mangel an Bildungsmöglichkeiten und Chancen. Das Irland seiner Jugend führte Shaw also jene strukturellen Hindernisse plastisch vor Augen, die individuelle Leistungsentfaltung, gesellschaftlichen Fortschritt, und konstruktive Meinungsbildungsprozesse beeinträchtigen – also eben jene gesellschaftlichen Probleme, deren Überwindung er später zum zentralen Anliegen seines Wirkens machte. Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass es sich bei Shaws erstem Kassenerfolg, der seinen Ruf als Dramatiker begründete, um ein Stück handelt, das sich mit der britischen Herrschaft über Irland und mit Fragen des Nationalismus auseinandersetzt: John Bull’s Other Island (1904).
In diesem Drama analysiert Shaw die Beziehung zwischen England und Irland schonungslos. Einerseits zeigt er, wie die Engländer Irland zugleich romantisieren und ausbeuten. Andererseits macht er deutlich, wie sich viele Iren im Zustand der Abhängigkeit von Großbritannien und des wirtschaftlichen und sozialen Stillstands gleichsam gemütlich eingerichtet haben. Ihre Kritik an der Unterdrückung und ihr nationales Aufbegehren bleiben bei Shaw reine Rhetorik. Kurzum, John Bull’s Other Island ist eine bissige Gesellschaftssatire, die einen kritischen Rundumschlag gegen alle Akteure des kolonialistisch-kapitalistischen Systems führt. Das tut sie allerdings auf so witzige und unterhaltsame Weise, dass König Eduard VII. bei der Uraufführung so sehr lachen musste, dass sein Stuhl zerbrach – so will es zumindest eine oft erzählte Anekdote.
Shaw war sehr politisch, in seinen Äußerungen aber auch ambivalent. Teils sympathisierte er mit den Nazis, lehnte sie aber auch vehement ab. Wie kann man sich seine Haltung da erklären?
Katharina Rennhak: „Das ist eine sehr wichtige, aber auch schwierige Frage, die eine differenzierte Betrachtung verlangt. Ich möchte die Leserinnen und Leser hier nicht mit den oft formelhaften Antworten abspeisen, die man zu diesem Aspekt von Shaws Denken in vielen kürzeren Überblicksdarstellungen findet. Eine häufig anzutreffende Argumentationslinie verweist darauf, dass Shaw sich vielleicht manchmal missverständlich ausgedrückt haben mag oder dass seine Satiren manchmal schlicht nicht von allen richtig verstanden wurden. Diese Argumentation finde ich müßig und gefährlich. Denn ja, klar, jeder – sogar Shaw – kann sich mal falsch ausdrücken oder als Autor Handwerksfehler machen und schlicht eine schlechte Satire schreiben, die ihr Ziel verfehlt. Das ist beides nicht moralisch verwerflich.
Wenn eine Person des öffentlichen Lebens aber aus Versehen eine moralisch widersprüchliche Aussage tätigt oder eine schlechte Satire schreibt, würde ich erwarten, dass die Person sich in der anschließenden öffentlichen Debatte um diese moralisch dubiosen, widersprüchlichen Aussagen möglichst schnell klar positioniert. Das konnte Shaw aber wohl mitunter nicht, weil nicht nur seine Rhetorik, sondern auch seine Haltung in manchen Punkten widersprüchlich war. Ein konkretes Beispiel hierfür sind seine kontroversen und kontrovers diskutierten Äußerungen zum damals viel diskutierten Thema der Eugenik, also zur Frage, ob und in welchen Fällen der Staat Menschenleben töten darf. Shaw spricht sich wiederholt und in ganz verschiedenen Texten und Kontexten für eugenische Praktiken aus. Was davon ernst und was unernst gemeint ist, lässt sich letztlich kaum entscheiden, denn es ergibt sich kein klares Gesamtbild. Unzweifelhaft ist und bleibt jedenfalls, dass Shaw phasenweise ein Bewunderer Hitlers, Stalins und Mussolinis war. Kurzdarstellungen „antworten“ auf dieses Problem gerne mit dem Satz, dass er zwar vielleicht diese Politiker bewunderte, nicht aber deren politische Programme als Ganzes.
So eine lapidare Aussage hilft aber meines Erachtens keinem weiter. Fintan O’Toole urteilt differenzierter. Er konstatiert unmissverständlich, dass Shaw wie viele seiner Zeitgenossen von den langwierigen demokratischen Auseinandersetzungen im Parlament frustriert war und sich einen starken Mann wünschte, der die schnelle Durchsetzung seiner politischen Ideen versprach. Laut O’Toole lag Shaws Versagen letztlich vor allem darin, dass er als der große, weise Denker und Seher GBS nicht erkannte, dass die politischen Vorstellungen von Hitler, Stalin und Mussolini keineswegs deckungsgleich mit seinen eigenen waren. „Der große Skeptiker“, so O’Toole, „ließ sich dazu verleiten, genau das zu glauben, was er glauben wollte: dass die totalitären Regime von Mussolini, Hitler und Stalin Vorboten eines echten menschlichen Fortschritts und einer wahren Demokratie seien.“
Shaw starb hochbetagt mit 94 Jahren. Was würden Sie als seine wichtigsten Beiträge zu Kultur und Gesellschaft erachten?
Katharina Rennhak: „Der Dramatiker Sean O’Casey hat einmal über seinen Kollegen gesagt: „Obwohl Shaw nie ein sozialistisches Stück schrieb, war er der größte Sozialist der westlichen Welt in seinem Jahrhundert.” Damit spricht er Shaws vielleicht größte Leistung an. Als überzeugter Sozialist, der seine politische Meinung nie verhehlte, legte er stets Wert darauf, in seinen Stücken unterschiedlichen Überzeugungen Raum zu geben. Figuren, die Positionen vertreten, die erkennbar Shaws eigenen entsprechen, werden nicht eindimensional positiv gezeichnet. Auch diese Figuren machen Fehler und präsentieren ihre philosophischen Theorien und politischen Standpunkte nicht ohne sich dabei auch mal in Widersprüche zu verstricken. Zugleich werden Figuren mit Überzeugungen, die sich nicht mit denen des Autors decken, nicht negativ überzeichnet.
In der Regel sind sie außerdem rhetorisch ebenso überzeugend wie ihre Dialogpartner*innen. Man könnte auch sagen, dass Shaws Vertrauen in das Gute im Menschen und seine Hoffnung, dass sich die Gesellschaft zum Positiven verändern lässt, tief in der Idee verankert sind, dass die konstruktive Auseinandersetzung mit zum Teil konträren Meinungen das gesellschaftliche Miteinander letztlich immer bereichert. All das ist heute absolut relevant. Kurz und unter Rückgriff auf aktuellere Schlagwörter könnte man sagen: Was wir in Shaws Stücken praktisch und auf eingänglich-unterhaltsame Weise vorgeführt bekommen, ist das ebenso paradoxe wie positive Zusammenwirken von Ambiguitätstoleranz, zielstrebigem politischen Engagement und Dialogfähigkeit.“
Uwe Blass
Prof. Dr. Katharina Rennhak -© Auen60 PhotographyÜber Prof. Dr. Katharina Rennhak
Katharina Rennhak studierte Anglistik und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und am St. Patrick’s College Maynooth, Irland. Von 1997 bis 2009 lehrte sie Englische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität. Seit 2009 ist sie Professorin für Englische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Katharina Rennhak war von 2019-2025 Präsidentin der European Federation of Associations and Centres of Irish Studies (EFACIS). Sie ist seit 2016 Mitglied der IASIL-Exekutive (Europäische Vertreterin) und langjähriges Mitglied des Zentrums für Erzählforschung der BUW.
Weiter mit:
Kommentare
Neuen Kommentar verfassen