13. November 2025Peter Pionke
Jazzgeschichte: Luis Armstrong und die erste Studiojazzband
Der weltberühmte Trompeter und Jazzmusiker Luis „Satchmo“ Armstrog – © PixabayLouis Armstrong gilt als „The World’s Greatest Trumpet Player“. Was war an seiner Spielart denn so außergewöhnlich?
Christoph Spengler: „Louis Armstrongs musikalische Wurzeln liegen beim New Orleans Jazz. Zunächst spielte er Kornett, wechselte aber später zu der markanteren Trompete. Mit seinen opulenten Improvisationen befreite er das Instrument aus dem reinen Gruppenspiel des New Orleans, schob die Trompete an den vorderen Bühnenrand und machte die Solo-Improvisation zu einer echten Kunstform, die auf einmal so viel mehr war als nur die Melodie mit einigen Verzierungen zu versehen. Armstrong verstand die Improvisation als eine Kunst des individuellen Ausdrucks.
Er formte aus den Tönen seiner Trompete singende Linien, die wie kleine Erzählungen klangen, mit einer beeindruckenden Phrasierung, kraftvollem rhythmischen Drive und einem bis dahin ungehörten Tonumfang. Dadurch bekamen seine Soli eine emotionale Tiefe, die es vorher im Jazz so nicht gegeben hatte. Ich denke, man kann sagen, dass er entscheidend dazu beitrug, den Jazz endgültig zu einer Kunstform zu machen. Er soll einmal gesagt haben: „Wenn es die Hörer mitreißt, ist es Unterhaltung, wenn nicht, ist es Kunst.“ Ich denke, er zeigte, dass es keinen Widerspruch zwischen Kunst und Unterhaltung gibt – im besten Falle ist Musik eben beides!“
© Bergische UniversitätViele Musikliebhaber kennen ihn auch unter seinem Kosenamen Satchmo. Woher kommt der Begriff?
Christoph Spengler: „Louis Armstrong hatte einen auffallend breiten Mund. Schon als Kind wurde er angeblich „Gate mouth“ (Scheunentor-Mund) genannt, später in den 20er Jahren „Satchelmouth“, was so viel wie „Schulranzen-Mund“ bedeutet. Man nannte ihn so liebevoll-spöttisch, weil er beim Lächeln fast „das ganze Gesicht“ öffnete. Eine weitere Variante war übrigens „Dippermouth“ (Schöpflöffel-Mund), ein Name, der ihn zum „Dippermouth Blues“ inspirierte.
Als Armstrong 1932 auf seiner ersten Europatournee in London auftrat, traf er einen Journalisten Percy Mathison Brooks, der ihn mit den Worten „Hello, Satchmo“ begrüßte. Louis Armstrong mochte diese Zusammenziehung des Wortes „Satchelmouth“ und „adoptierte“ sie als eine Art Künstlernamen, den er auch in Briefen und Interviews verwendete. So wurde er zum Markenzeichen einer unverwechselbaren Künstlerpersönlichkeit, die Wärme, Humor und Lebensfreude gleichermaßen ausstrahlte – wie auch seine Musik.“
Als er als Leiter mit der Band ‚Hot Five‘ 1925 ins Studio ging, war Louis Armstrong gerade einmal 24 Jahre alt, galt aber schon als erfahrener Musiker. Worauf beruhte diese Einschätzung?
Christoph Spengler: „Louis Armstrong begann schon sehr früh mit dem Musizieren. Mit 12 Jahren wurde er in eine Anstalt für obdachlose afroamerikanische Jugendliche eingewiesen, weil er mit dem Revolver seines Onkels in die Luft geschossen hatte. In diesem streng organisierten Heim lernte er die Grundlagen des Kornett-Spiels und schlug sich schon früh mit Auftritten als Musiker im Rotlichtmilieu der Stadt durch. Er behauptete sogar, er sei 1900 geboren worden – sein tatsächliches Geburtsjahr ist 1901 –, um Zutritt zu den Etablissements zu erhalten.
Christoph Spengler, Chor- & Orchester-Leiter an der Bergischen Universität – © Sergej LepkeSchon bald war er stadtbekannt, galt als eines der größten Talente und spielte in den besten Bands der „Storyville“-Szene. 1922 holte ihn der legendäre Trompeter King Oliver nach Chicago in seine Creole Jazz Band, die wie eine Lehrwerkstatt für junge Musiker war. Dort erlernte Armstrong das professionelle Zusammenspiel, das Arbeiten im Studio, und er begann, eigene Soli zu entwickeln. Schon zu dieser Zeit sprach man von ihm als einem Mann, der „den Jazz nach vorn brachte“. Bis 1925 hatte er schon in mehreren Formationen gespielt und war zwar noch jung, aber bereits ein erfahrener Profi – gereift durch hunderte Nächte in Clubs und Tanzlokalen.“
Die ‚Hot Five‘ nannte man auch die erste Jazzband aus der Retorte. Was bedeutet das?
Christoph Spengler: „Der Ausdruck „Band aus der Retorte“ mag spöttisch klingen, meint aber eine Entwicklung, die neu war in der Geschichte des Jazz. Die Hot Five (später auch Hot Seven, als weitere Musiker dazu kamen) waren keine regelmäßig auftretende Live-Band, sondern eine Studio-Formation, die eigens für Schallplattenaufnahmen zusammengestellt worden war. Die Musiker kannten sich seit Jahren, und daraus entstand eine ungewöhnliche Arbeitsweise. Man probte die Stücke nicht vorher, sondern traf sich im Studio und „jammte“ mit Hilfe von aufgeschriebenen Skizzen.
So entstanden erst im Studio die eigentlichen Arrangements, oft mehrere Songs im Verlaufe weniger Stunden. Von 1925 bis 1928 wurden so über 60 Titel aufgenommen. Der Klang war neu für die Jazz-Welt, nicht mit den Hintergrundgeräuschen einer Bar mit einem applaudierenden Publikum, sondern „cleaner“ durch die zunächst nüchterne Studio-Atmosphäre. Armstrong nutzte die Umgebung des Studios, um die Stücke mehr zu elaborieren als das in einer Live-Situation möglich gewesen wäre, und somit vereinte er gewissermaßen Komposition und Improvisation.“
Die Studioaufnahmen der ‚Hot Five‘ prägten die Zukunft des Jazz. Woran erkennt man das?
Christoph Spengler: Man könnte sagen, dass Armstrong mit den Hot Five den Jazz individualisierte. Nicht mehr die Gruppe stand im Vordergrund, sondern das individuelle Solo als Ausdruck einer persönlichen Kreativität. Aufgrund des Entstehungsprozesses im Studio mit der Möglichkeit, Passagen mehrfach aufzunehmen, waren die Soli nicht rein spontane Erzeugnisse, sondern hatten kompositorische Züge und damit eine klarere und mitreißendere Dramaturgie. Das war in dieser Form neu im Jazz und absolut stilprägend für viele große Jazzer, die ihm folgten.
Das Stück „West End Blues“ als zeitgenössische britische Lizenzpressung von 1928 – © CC BY-SA 4.0Auch klanglich öffneten die Studio-Sessions neue Türen. Armstrong experimentierte mit Klangfarben, Dynamik und Rhythmus – damit trug er auch entscheidend zur Entwicklung des Swings bei. Auch die Rollenverteilung in der Band änderte sich. Die Trompete war das führende Instrument, während Klarinette und Posaune begleiteten und Banjo und Schlagzeug den rhythmischen Drive übernahmen. Dieses neue Verhältnis zwischen Melodie, Harmonie und Rhythmus prägte Generationen von Musikern – von Duke Ellington über Charlie Parker bis hin zu Miles Davis.“
Der erste große Hit der Hot Five entstand schon im Februar 1926. Es war „Heebie Jeebies“, die erste Vokal-Aufnahme Armstrongs ohne Gesangspartner und zugleich die Einspielung, die den Scat-Gesang ins Jazz-Vokabular brachte. Um welche Gesangsart handelt es sich dabei?
Christoph Spengler: „Der sogenannte Scat-Gesang ist eine Form der gesungenen Improvisation, bei der die Stimme wie ein Instrument eingesetzt wird. Statt eines konkreten Textes nutzt der oder die Improvisierende dazu Fantasie-Silben wie „ba-da-du“ oder „doo-bee-doo“. So entstehen Melodien und Phrasierungen, und die Stimme imitiert gewissermaßen Instrumente wie Saxophon oder Trompete oder tritt sogar in den Dialog mit ihnen.
Die Legende besagt, Armstrong habe den Scat-Gesang eher zufällig erfunden: Während der Aufnahme von „Heebie Jeebies“ soll ihm das Textblatt aus der Hand gefallen sein, und so improvisierte er kurzerhand mit bedeutungslosen Silben weiter. Ob das wirklich so geschah, ist umstritten, aber es beschreibt doch so schön, was Armstrong auszeichnete: Spontane Kreativität und große Spielfreude.“
Armstrong hat die Improvisation in den Jazz gebracht, was aber nicht bedeutete, spontan ein paar nette Töne zu spielen, die irgendwie passten, sondern ein zusammenhängendes Statement abzugeben. Wie machte er das?
Christoph Spengler: „Für Armstrong waren Improvisationen viel mehr als nur die Möglichkeit, möglichst viel Virtuosität auf kleinem Raum zu zeigen. Er verstand eine Improvisation vielmehr als eine Art musikalischer Erzählung. Daher war für ihn die Dramaturgie eines Solos wichtig, mit Anfang, Höhepunkt und Auflösung. Er dachte in Phrasen, nicht in einzelnen Noten und baute seine Improvisationen auf klaren melodischen Motiven auf, die er wiederholte, variierte und steigerte. Auch hier zeigt sich wieder, wie nahe er Improvisation und Komposition zusammenbrachte.
Bei aller Virtuosität hatten seine Soli immer eine Gesanglichkeit, er imitierte mit seiner Trompete die Ausdruckskraft der menschlichen Stimme, brachte sein Instrument gewissermaßen zum Sprechen. Seine Soli erzählten Geschichten, und das war neu im Jazz und prägt die Kunst der Improvisation bis heute.“
Die berühmteste Aufnahme der ‚Hot Five‘ entstand im Sommer 1928. Der „West End Blues“ gilt als „das Meisterwerk einer Epoche“, sagt der deutsche Jazztrompeter Abbi Hübner. Was meint er damit?
Christoph Spengler: „Schon der Anfang des Stückes ist außergewöhnlich: Nicht die ganze Band setzt ein, sondern wir hören zwölf Sekunden lang ein einleitendes Trompetensolo. Das war vollkommen neu und gilt bis heute als einer der ikonischsten Momente der Jazz-Geschichte. In wenigen Takten zeigt Armstrong alles, was für ihn Jazz bedeutet: Kraft, Eleganz, Freiheit und Formbewusstsein.
Der Tompeter, Jazzmusiker und Bandleader Louis Armstrong 1953 – © gemeinfreiWas dann folgt, ist ein wundervoll ausgearbeiteter Blues, an dem einfach alles stimmt, man denke nur an das wundervolle Duett zwischen Gesang und Klarinette oder das beeindruckende, virtuose Solo des Pianisten Earl Hines – was für eine Leichtigkeit, was für eine Eleganz, was für eine wundervolle Stringenz. Das Zusammenspiel der Band, die musikalische Kommunikation sind einzigartig und wurden zum Maßstab für Generationen von Jazzmusikern und -musikerinnen. Das Stück ist ein treffendes Beispiel dafür, wie der Jazz zur hohen Kunst wurde.“
Miles Davis, selber eine Jazzlegende, sagt über Armstrong: „Es gibt nichts auf der Trompete, was nicht von ihm stammt, nicht einmal im modernsten Jazz“. Würden Sie dem zustimmen?
Christoph Spengler: „Absolut! Und das sagt ja nicht irgendwer, sondern ein Musiker, dessen Trompetenspiel – wie das Armstrongs – immer mit dem Begriff des Jazz verbunden sein wird. Armstrong war der erste – und darauf spielt Miles Davis hier an -, der der Trompete im Jazz eine eigene Stimme gab, sie aus dem reinen Ensemblespiel herauslöste und zur Protagonistin machte. Die großen Musiker nach Armstrong – von Dizzy Gillespie über Miles Davis bis Wynton Marsalis – stehen in dieser Tradition.
Armstrong entwickelte eine Technik, die Maßstäbe setzte, die er aber eben nicht um ihrer selbst willen einsetzte, sondern nutzte, um die Musik Geschichten erzählen zu lassen – mit einem unglaublichen Reichtum an Farbe, Kraft, Emotionalität und einem wundervollen Gespür für Form und Dramaturgie. Ich denke, man kann sagen, dass Armstrong nicht nur die Trompete im Jazz revolutionierte, sondern das musikalische Denken des Jazz selbst – weg von einer beiläufig plätschernden Unterhaltungsmusik hin zu einer respektierten Kunstform.“
Uwe Blass

Über Christoph Spengler
Christoph Spengler studierte Kirchenmusik in Düsseldorf. 2007 übernahm er die Leitung des Unichores, 2011 die Leitung des Orchesters. 2016 verlieh ihm das Rektorat die Ehrenmedaille der Bergischen Universität. 2017 wurde er zum Kirchenmusikdirektor durch die Evangelische Kirche im Rheinland ernannt.
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