12. Oktober 2025Peter Pionke
Schauspiel zeigt Handke-Stück ohne gesprochenen Text

Es ist eines der radikalsten Experimente des modernen Theaters. Am Samstag (11.10.25) war im Wuppertaler Theater am Engelsgarten die Premiere. Literarisch wird Handke (Jahrgang 1942) als einer der bedeutendsten Sprach- und Wahrnehmungspoeten der Gegenwart gesehen, ein Star der Literaturszene. Österreicher Handke hat in dem am 9. Mai 1992 in Wien uraufgeführten Werk beschrieben, dass Sprache einerseits ein Geschenk, andererseits eine Gefahr ist: Sie kann Gefühle ausdrücken – aber auch abnutzen, überformen, zerreden.
Sprache ein Geschenk, aber auch eine Gefahr
So verzichtet sein Werk auf klassische Handlung und bevorzugt Bewegung, Wahrnehmung und Beobachtung – Das Sehen selbst wird statt des Sprechens zum Inhalt. Das ist die vorsprachliche Ebene, auf der sich Emotion bildet, bevor sie ausgedrückt wird. Handkes Vision einer „Sprache jenseits der Sprache“, einer Kommunikation, die noch auf der Ebene der Wahrnehmung bleibt – vorsprachlich, aber sinnlich und bedeutungsvoll.

Die Wuppertaler Bühnen veranstalten ihre Inszenierung als „Stadtprojekt für und mit Wuppertalerinnen und Wuppertalern“, für das im Vorfeld ein Casting durchgeführt wurde. Nicht nur professionelle Schauspielerinnen und Schauspielern sind beteiligt, sondern auch interessierte Bürgerinnen und Bürger aus Wuppertal, die Seite an Seite mit Ensemblemitgliedern auf der Bühne stehen. Die Proben fanden von Mai bis Juni und September bis Oktober 2025 statt.
Das Publikum „liest“ die Gesten, nicht die Worte
Die Inszenierung von Charlotte Arndt & Thomas Braus nutzt auf einer völlig leeren Bühne unterschiedliche nonverbale Stilmittel, als da sind Pantomime, Commedia, überzogene Aktionen (Slapstick) sowie geräuschbezogene Elemente, wie Vogelgezwitscher oder Flugzeuglärm, Musik mit Körpersprache, Bewegungen und Mimik. Das Zusammenspiel von Licht, Bild, Raum, Kostüm und musikalische Effekte übernimmt die Rolle der Ausdrücke.

In diesem poetisch inszenierten Stück ohne Worte ist das kontrastreiche, wortlose Gehen, Passieren und Beobachten eine Form der Wirklichkeit, die auch theatralisch ist. In dem die Figuren schweigen, wird das Publikum gezwungen, genauer hinzusehen: Jede Bewegung, jede Geste, jede Blickrichtung wird zum Zeichen.
Menschen treten zueinander in Beziehung, ohne etwas zu sagen, und dennoch entsteht zwischen ihnen eine Atmosphäre, ein Gefühl von Nähe, Fremdheit, Angst oder Verbundenheit. Eine Frau bleibt stehen, schaut. Ein Kind läuft vorbei. Zwei Männer begegnen sich, einer zögert, beide gehen weiter. Eine Gruppe lacht, einer stolpert. Eine Leiche wird vorbeigetragen. Diese Mini-Szenen wirken zufällig, aber sie entfalten beim Zusehen einen Rhythmus, eine Stimmung, ein Gefühl von Zusammenleben. Das Publikum „liest“ die Gesten, nicht die Worte.

Gefühle macht man sich selbst
„Gefühle kommen nicht über Einen – man macht sie sich, indem man schaut“, sagte Handke einmal in einem Interview und legte mit dem ästhetisches Prinzip auch einen Baustein moderner Kommunikations- und Verhaltenslehre. Das Stück liefert hierzu Belege am Fließband. Da ist das Angst auslösende Gewitter ebenso wie der “rote Teppich“, der die Masse stimuliert und das Individuum zum angebeteten Helden werden lässt.
Da ist die Frau, die ein neugeborenes Baby im Arm zu halten scheint, die Blicke mystisch religiös auf sich zieht und da ist auch die Nutzung von zeitgemässen Handys, welche die Realitäten im Umfeld total ausblenden, da sind Pakete in einer Wegwerfgesellschaft, die Gier entstehen lassen.

Der Alltag, Interaktion, Isolation, Nähe und Distanz sind zentrale Motive. Es gibt ein Kommen und Gehen, Szenen, in denen Menschen sich wahrnehmen, ignorieren, zusammenkommen, auseinandergehen. Das Stück zeigt viele Figuren – teilweise Einzelpersonen, Paare, Gruppen – in kurzen Episoden, Begegnungen, teils mit Scherz und Spass, mystische, märchenhafte oder symbolische Elemente treten auf, ebenso Überzeichnungen,
Die Motive des Nobelpreis-Komitees
Besonders beeindruckend ist, wie das Ensemble und das technische Team die logistische Herausforderung gestemmt haben – von vielen Rollenwechseln bis zur Ausstattung. Die Aufführung öffnet vor allem Spielräume für eigene Deutungen, was ein großes Plus sein kann. Wenn man es schafft, sich auf diese Form, Sprache jenseits der Sprache, einzulassen, wird die Aufführung lohnend sein. Sie ist kein „bequemes“ Theater – sie fordert Aufmerksamkeit, Offenheit und Bereitschaft, sich auf Bilder, Stille und Bewegung einzulassen.

Man erkennt, warum das Osloher Nobelpreis Komitee 2019 den politisch umstrittenen Peter Handke wählte, der die Spezifität menschlicher Erfahrungen stets brillant auslotete. Wer aber konventionelles Theater, klare Sprache oder linear erzählte Handlungen bevorzugt, wird womöglich von dieser Aufführung irritiert sein. In „Versuch über den geglückten Tag“ (1991) schreibt Peter Handke sinngemäß: „Der Tag ist geglückt, wenn man sich ihn so macht.“
Text: SIEGFRIED JÄHNE
„Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“
Ein Theaterstück von Peter Handke
Besetzung:
Emma Birkmann – Regaip Çetin – Sefa Merve Dalkiran – Angela del Vecchio – Giordana Garofalo, Dirk Gauer, Dora Hackenberg – Gunhild Knecht – Hans-Peter Koellges – Angela Körner – Katarzyna Kwiecien – Marvin Löffler – Christine Loges – Kristin Löhken – Silvia Munzón López – Katharina Matthes – Heike Müller – David Navaei – Elli Sophie Pfeffer – Matthias Pingel – Anna Linnea Schulz – Simon Spahlinger – Silvia Treibert – Prudence Tsomo – Nadja Varga – Oliver Voß – Elisa Wierig – Christl Wolff-Schott

Team:
Inszenierung: Charlotte Arndt – Thomas Braus
Kostüme: Anna Jurczak
Performance Leadership: Silvia Munzón López
Requisite: Jennifer Günther
Dramaturgie: Elisabeth Hummerich
Regieassistenz: Inspizienz Nele Wahl
Koordination: Timon Figge – Svenja Schlei
Kostümassistenz: Laura Hutta
Die nächsten neun angesetzten Vorstellungen: Ab Mittwoch 15. Oktober bis Samstag 15. November
Weiter mit:
Kommentare
Neuen Kommentar verfassen