9. September 2024Peter Pionke
Der Elektrotechniker, der die Filmmusik veränderte
Was hat Maurice Jarre denn so alles komponiert?
Christoph Spengler: „Das Schaffen von Maurice Jarre war ungeheuer vielfältig, und so ist die Liste der Filmmusiken lang. Hier ist eine subjektive Auswahl der bekanntesten Filme, zu denen er die Musik komponierte: „Lawrence von Arabien“ (1962), „Doktor Schiwago“ (1965), „Die Reise nach Indien“ (1984), „Der Club der toten Dichter“ (1989), „Gorillas im Nebel“ (1988), oder „Ghost – Nachricht von Sam“ (1990). Insgesamt hat er für über 150 Filme die Musik komponiert und dabei erstaunlich verschiedene Genres bedient. Er war als Komponist unter anderem so beliebt, weil es ihm stets gelang, die Atmosphäre und vor allem die Emotionen der Filme so gut einzufangen und dabei auch ungewöhnliche Wege – zum Beispiel bei der Auswahl der Instrumente – zu gehen.“
Vor seiner Filmmusikkarriere hatte er bereits 12 Jahre für namhafte französische Theaterproduktionen gearbeitet. Und trotz seiner anfänglichen Filmerfolge sollte er bei Laurence von Arabien nur die Zweitbesetzung sein. Warum?
Christoph Spengler: „Die erste Wahl des Regisseurs David Lean für den Film „Lawrence von Arabien“ war der britische Komponist Sir William Walton, der sehr bekannt war für seine opulenten und dramatischen Kompositionen, was für dieses Filmepos angemessen erschien. Auch Malcolm Arnold wurde in Betracht gezogen. Es kam aber mit beiden Komponisten zu Terminkonflikten, so dass sie nicht zur Verfügung standen. So entschied sich Lean, Maurice Jarre eine Chance zu geben. Jarre hatte bis dahin vorwiegend in Frankreich gearbeitet und noch keinen internationalen Durchbruch erzielen können, daher war Lean anfangs skeptisch, ihm dieses große Projekt anzuvertrauen.
Ihm wurden nur sechs Wochen Zeit gegeben, um zwei Stunden Orchestermusik zu schreiben. Die Musik wurde vom London Philharmonie Orchestra eingespielt. Als Dirigent wird im Abspann des Films Sir Adrian Absolut angegeben, in Wirklichkeit hatte er aber größte Schwierigkeiten beim Dirigat, sich an die komplexen Zeitangaben der einzelnen Stücke zu halten, so dass er im Verlauf der Aufnahmen durch Jarre als Dirigent ersetzt wurde. Die Musik brachte Maurice Jarre seinen ersten Oscar ein und wird heute als eine der größten Filmmusiken überhaupt angesehen. Sie rangiert auf Platz drei der Top-25-FIlmmusiken des American Film Institutes.“
Drei Mal hat er den Oscar für die beste Filmmusik erhalten. Dabei spielt auch ein ungewöhnliches Instrument, die sogenannten Ondes Martenot eine Rolle. Was war das für ein Instrument?
Christoph Spengler: „Die Ondes Martenot – das heißt übersetzt „Martenot-Wellen“ – sind ein im Jahr 1928 vorgestelltes einstimmiges elektronisches Musikinstrument, das nach seinem Erfinder Maurice Martenot benannt wurde. Es wird in der ursprünglichen Version mit einem Ring bedient, der auf einem Draht sitzt und parallel zu einer darunter liegenden Tastatur, die aber nur zur optischen Orientierung dient, bewegt wird. Mit der rechten Hand wird der Ring geführt, die linke Hand kann Lautstärke und Klangregelungen machen. Der Klang erinnert ein wenig an eine singende Säge. Bedeutende französische Komponisten des 20. Jahrhunderts setzen die Ondes Martenot ein, so unter anderem Olivier Messiaen, Darius Milhaud, Arthur Honegger und Edgar Varèse.
Maurice Jarre und Elmer Bernstein sind die wohl bekanntesten Filmkomponisten, die das Instrument für ihre Musiken einsetzten. Typisch für Maurice Jarre ist, dass er das Instrument nicht einfach nur einsetzte, weil es neu war, sondern weil er mit dem Klang bestimmte Stimmungen der Filme einfangen wollte, so zum Beispiel die mystischen Wüstenlandschaften in „Lawrence von Arabien“, die bedrohliche Stimmung in „Die Nacht der Generäle“ oder eine transzendente Klanglichkeit in „Jesus von Nazareth“.“
Sein Song „Lara`s Theme“ aus dem Film „Doktor Schiwago“ wurde in den USA der „Peoples Choice Award“ als „bester Song aller Zeiten“ verliehen. Was macht ihn so besonders?
Christoph Spengler: „Ich denke, dass das mehrere Gründe hat. Mir als Musiker fällt zuerst die ausgeklügelte Instrumentierung auf, und das ist ja zugleich ein so typisches Merkmal der Jarreschen Musik. So nutzt er zur Unterstützung der Melodie eine Balalaika, um ein russisches Lokalkolorit klanglich einzufangen. Darüber hinaus ist die Orchesterbesetzung durchaus opulent mit Streichern, Holzbläsern, Horn, Harfe, Klavier und sanften Perkussionsinstrumenten. Das schafft insgesamt auch eine große emotionale Tiefe und trägt die unglaublich einprägsame Melodie wunderbar. Die Melodie selbst ist nicht banal, sondern überrascht mit Chromatik und harmonischen Wendungen. Die Wirkung ist einerseits sehr romantisch, gleichzeitig weckt sie nostalgische Emotionen. Das Stück hat stilübergreifend viele Musikerinnen und Musiker zu Neuinterpretationen animiert, was natürlich den Bekanntheitsgrad noch weiter gesteigert hat.“
Wie so oft im Leben entschied auch er sich gegen den Willen seines Vaters zum Musikstudium, obwohl er keine Note auf dem Klavier konnte. Was hat er studiert?
Christoph Spengler: „Maurice Jarre studierte zunächst Elektrotechnik – daher wohl auch seine Offenheit gegenüber elektronischen Instrumenten. Recht bald jedoch entscheid er sich gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters, am Conservatoire de Paris, einer der renommiertesten Musikhochschulen Frankreichs, einzuschreiben. Dort hatte er namhafte Lehrer, unter anderem den bedeutenden Komponisten Arthur Honegger. Neben dem Studium der Komposition wählte er Perkussion als sein Hauptinstrument.“
Auch für Volker Schlöndorffs Film „Die Blechtrommel“, nach dem Roman von Günther Grass, hat er komponiert. Darin sollte er eine Kartoffel instrumentieren und fand dazu ein polnisches Instrument, die Fujara. Was macht man damit?
Christoph Spengler: „Die Fujara ist eine lange, senkrecht gehaltene Flöte, die in der Slowakei traditionell von Hirten gespielt wird. Der Klang ist holzig, man kann tiefe, warme Töne erzeugen, aber auch eher schnarrende Obertöne. Dass Maurice dieses Instrument in dem Film „Die Blechtrommel“ einsetzt, liegt wohl zum einen daran, dass er dadurch wie in vielen seiner Musiken auch hier wieder einen Bezug zum Ort der Handlung des Films herstellt – ein Großteil der Handlung spielt in Danzig an der polnischen Ostseeküste -, zum anderen passt der tiefe, melancholische Klang zur düsteren und zugleich surrealen Stimmung des Films. Besonders in Szenen des Films, die die Themen Unschuld und Verlust aufnehmen, kommt die Fujara verstärkt zum Einsatz.“
Fachleute sagen, er habe ein Gespür für das Epische und Monumentale. Stimmt das?
Christoph Spengler: „Nun, man muss sich nur anschauen, für welche Filme Maurice Jarre als Komponist beauftragt wurden, um zu verstehen, dass Regisseure um seine Fähigkeit wussten, dafür genau die richtige Musik zu schreiben. Er hatte ein unglaubliches Gespür dafür, sich in die Emotion und Dramatik eines Filmes einzufühlen und zur Grundlage seiner Komposition zu machen. Dabei war er stets auf der Suche nach Möglichkeiten, die jeweilige Musik einzigartig zu machen, vor allem durch die Auswahl besonderer Instrumente, die zum Handlungsort oder zur besonderen Atmosphäre passten. Wie viele andere der ganz großen Filmkomponisten nutzte auch er als Grundlage eine große Orchesterbesetzung, die per se eine epische Breite ermöglicht. Hier half ihm auch seine gute Kenntnis der Perkussionsinstrumente, diese wirkungsvoll und zur Steigerung der Dramatik einzusetzen. Sein kompositorisches Geschick ermöglichte ihm, über lange Zeiträume Spannung aufzubauen, die an Höhepunkten kulminiert.“
In den 80er Jahren hat er auch mit Synthesizer-Effekten gearbeitet. Damit ist aber sein Sohn erfolgreicher gewesen, oder?
Christoph Spengler: „In der Tat ging Maurice Jarre in den 80er Jahren neue Wege, indem er in Filmen wie „Der einzige Zeuge“ reine Synthesizer-Musik nutzte, was einen starken Bruch gegenüber seinem bisherigen Schaffen darstellte. Sein Ziel war es dabei, neue Klanglandschaften zu erforschen und seinen musikalischen Stil weiter zu entwickeln. Aber auch hier war es weniger der Selbstzweck, der ihn antrieb, als seine Ansicht, dass diese neuen Klangwelten die Atmosphäre der spezifischen Filme aus seiner Sicht besser einfangen konnten. Ein „moderner“ Film wie „Der einzige Zeuge“ brauchte eben auch ein „moderne“ Musik, die Klänge aus unserer Zeit integrieren musste.
Sein Sohn Jean-Michel entwickelte diese Idee im Grunde sehr konsequent weiter und komponierte ganze Alben, die aus rein synthetischer Musik bestanden und ohne die Nutzung klassischer Instrumente auskamen. Er erschuf damit eine völlig neue Klangwelt, die kommerziell außerordentlich erfolgreich war und Basis eines neuen Genres wurden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Vater und Sohn scheint mir aber eben zu sein, dass der Vater immer auf der Suche war, Emotionen von Bildern einzufangen und zu unterstützen, während Jean-Michel eine ganz eigene Kunstform der elektronischen Musik erschuf.“
In seinen späten Jahren widmete er sich vor allem sinfonischer Musik. Was verbinden Sie mit ihm?
Christoph Spengler: „Was mich an Maurice Jarre begeistert, ist in der Tat sein Gespür für den ganz konkreten Film, für den er gerade komponiert. Hört man mehrere seiner Musiken, ist es weniger deutlich als bei anderen Komponisten, dass sie vom selben Menschen stammen. Es gibt nur wenige Filmkomponisten, die so wandelbar sind wie er es war. Oft reichen nur wenige Takte, und man hat nicht nur Bilder, sondern eben auch dem Ort, die Atmosphäre und die Emotionen eines bestimmten Films wieder vor dem inneren Auge. Das zeichnet ihn aus meiner Sicht besonders aus. Dadurch ist seine Musik zeitlos schön, und ich bin sicher, dass sie eine sehr lange Zeit überdauern wird.“
Uwe Blass
Über Christoph Spengler
Christoph Spengler studierte Kirchenmusik in Düsseldorf. 2007 übernahm er die Leitung des Unichores, 2011 die Leitung des Orchesters. 2016 verlieh ihm das Rektorat die Ehrenmedaille der Bergischen Universität. 2017 wurde er zum Kirchenmusikdirektor durch die Evangelische Kirche im Rheinland ernannt.
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