9. September 2023Peter Pionke
Raumbilder – Der ganz andere Blick auf Deutschland
Autor Uwe Blass hat Philipp Roling im Rahmen der spannenden und lehrreichen Uni-Reihe „Transfergeschichten“ über die Schulter geschaut.
Noch ist es nicht ganz klar, ob es sich bei der Sammlung des spanischen Ehepaars Yolanda Fernández-Barredo Sevilla und Juan José Sánchez Garcia um die größte Sammlung stereoskopischer Objekte der Welt handelt, aber dass es eine der außergewöhnlichsten Sammlungen fotografischer Objekte ist, steht außer Frage.
Sie zu kuratieren und für die Wissenschaft zugänglich zu machen wird demnächst die Aufgabe der Dozentin in der Wissenschafts- und Technikgeschichte der Bergischen Universität, Dr. Carmen Pérez González, sein, die schon jetzt in einem Pilotprojekt mit Studierenden an einigen deutschen Gegenständen der Sammlung forscht.
Die Sammlung der Fundación FBS
Alles begann 1978, als der damalige Architekturstudent Juan José Sánchez Garcia ein erstes Stereoskop mit den dazugehörigen Bildern kaufte und damit eine der heute größten Sammlungen stereoskopischer Fotografie begründete. Im Laufe der Jahre fand er weitere Objekte in alten Bibliotheken, Antiquariaten und auf Flohmärkten.
Zusammen mit seiner Frau Yolanda, die damals in Madrid zeitgleich ihre Doktorarbeit über Architekturfotografie des 19. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt auf stereoskopischer Fotografie schrieb, suchte er weiter nach interessanten Objekten, während sie sich um Textquellen und deren Dokumentation kümmerte, denn irgendwann sollte diese wachsende Sammlung für die künftige Forschung nutzbar sein.
Sie enthält heute rund 350.000 Fotografien, von denen mehr als 80 % stereoskopische Fotografien sind, darunter einige außergewöhnliche Daguerreotypien und Autochrome, mehr als 1000 Betrachter, 30 Kameras, mehr als 1000 verschiedene Geräte und Apparate sowie Möbel aus dem 19. Jahrhundert zum Aufbewahren, Bewahren und Sortieren stereoskopischer Fotografien sowie eine Bibliothek mit 10.000 Publikationen. Am 05. Mai 2023 war es dann soweit. Die beiden Architekten gründeten die Stiftung „Fundación FBS“ in Granja de San Ildefonso, die Sammlung selber befindet sich in Madrid.
Stereoskopische Fotografie – ein Student wird neugierig
Im Zuge des Seminars, an dem auch der Student Philipp Roling teilnahm, präsentierte die Seminarleiterin u.a. einen stereoskopischen Bildbetrachter mit Stereofotografien in einer Box. Die Aufnahmen darin entstanden in der Weimarer Republik und zeigen 100 Raumbilder aus Deutschland in den 20er und 30er Jahren.
„Stereoskopische Fotografie ist die Aufnahme von zwei Bildern, die quasi räumlich aufgenommen werden, d.h., sie werden in einem Abstand geschossen, der ungefähr dem der Augen entspricht, was man dann wiederum mit einer Kamera und zwei Blickwinkeln machen kann oder mit einer spezifischen stereoskopischen Kamera, die direkt zwei Bilder aufnimmt“, erklärt Roling die besondere Art der Fotografie.
„Nach der Verarbeitung werden diese Fotos auf Kärtchen gedruckt, die mit einer bestimmten Betrachterbrille eine optische Täuschung und einen räumlichen Effekt verursachen.“ Fasziniert von der Technik und den historischen Ergebnissen übernahm er das Projekt.
100 Raumbilder nachstellen
Philipp Roling machte sich an die Arbeit und fand alsbald einen Forschungsansatz. „Ich reise gerne, bin geschichtlich sehr interessiert und habe dann zu diesem Projekt überlegt, ob es nicht interessant wäre, den Wandel in den fast hundert Jahren auf Bildern festzuhalten, weil es sicher starke Veränderungen gegeben haben müsste.“ Und so begab sich der Student an die ersten Orte, um seine Idee umzusetzen.
„Wie groß das Projekt im Endeffekt dann werden würde, davon hatte ich keine Vorstellung.“ Roling reiste durch Deutschland und stellte mit der Zeit fest, dass viele Motive nicht nur durch den Krieg zerstört worden waren, sondern auch im Zuge des gesellschaftlichen Wandels mittlerweile abgerissen wurden. „Das Gewandhaus in Leipzig z. B., dessen Ruinen sind erst in den 60er Jahren einem Neubau gewichen“, erklärt er, „oder ideologische Gebäude und Teile von Stadtansichten, wurden quasi in der Nachkriegszeit zerstört.“
Roling orientierte sich an den Bildtexten, die zu jeder Stereofotografie kurze Informationen zum Objekt angeben. Das schränkte den Ort des Objektes oder der Landschaft schon einmal ein, jedoch bestand die Hauptschwierigkeit darin, den genauen Standpunkt zu finden, von dem der damalige Fotograf das Motiv geschossen hatte. „Während Motive wie der Kölner Dom in der Westansicht eine ziemlich einfach zu findende Position ist, sieht es bei einer Landschaft schon wieder anders aus.“
Am Drachenfels bei Königswinter stieß er dann auch zum ersten Mal an seine Grenzen. „Die Zugänglichkeiten herrschen nicht mehr so vor wie damals. Man müsste quasi über die Absperrungen auf ein altes Mauerwerk klettern, um die Ansicht von Rhein und Drachenfels auf ein Bild zu bekommen. Das ist aber nicht möglich.“
Hilfe kommt von engagierten Bürgern
Roling nutzte auch die Möglichkeit von Satellitenansichten, um markante Punkte zu identifizieren. „In Siegburg habe ich mir zwei Kirchtürme herausgesucht, über die ich dann quasi den dritten Punkt, von dem das Bild geschossen wurde, erst gefunden habe. Das war die St. Anno-Kirche in Siegburg.“ Doch der Weg dahin war steinig. „Ich bin per Satellitenbildern die Straßen abgelaufen und habe die gesamte Umgebung kontrolliert, bis ich dann auf die St. Anno- Kirche gestoßen bin.“
Um jedoch das eigentliche Parallelbild von der Kirche aus zu erstellen, mussten dann noch Genehmigungen eingeholt, die Lichtverhältnisse bedacht und das Wetter einkalkuliert werden.
„Der Kirchturm ist seit einigen Jahren eingerüstet und nicht der Öffentlichkeit zugänglich. Ich bin dann an einen sehr netten Herrn geraten, der mir über den Bauaufzug an der Seite des Kirchturms ermöglichte hochzufahren, um dann das Stereobild zu machen. Diese Erfahrung habe ich jetzt auch schon mehrmals gemacht, dass viele Leute, die ich im Laufe des Projektes für Genehmigungen angesprochen habe, sehr begeistert sind und hinter diesem Projekt stehen. Auch das Aachener Rathaus, dessen Dach nicht mehr zu betreten ist, durfte ich kurzzeitig nutzen.“
Projekt mündet in Masterthesis
Mittlerweile hat der emsige Student bereits 29 Objekte mit der Stereokamera festgehalten. Die größte Herausforderung in der nächsten Zeit werden die enormen Entfernungen sein, die er zurücklegen muss, um bestimmte Motive einzufangen. „Viele der Bilder sind in Bayern und im ehemaligen Preußen gemacht worden“ erzählt er. „Das ehemalige Preußen hat den Schwerpunkt im westlichen Raum, also Orte in NRW, in Rheinland-Pfalz und in Hessen. Da konnte ich relativ einfach hinkommen. In anderen Bundesländern habe ich auch Freunde, so dass ich das verbinden konnte.“
Schwieriger wird nun der gesamte Osten und Norden Deutschlands sowie der weite Süden mit Bayern und Baden-Württemberg. Das sei vor allem eine finanzielle Frage. Außerdem seien manche Bilder im Sommer, andere im Winter gemacht worden, so dass er an diese Orte zweimal reisen müsse.
Seine Begeisterung ist trotzdem ungebrochen. „Ich bekomme Einblicke, die nicht einmal den Leuten, die da wohnen, wirklich gewährt werden. Z.B. die Stadtansicht in Aachen vom Rathausturm aus, oder den Blick von der Stephanskirche in Mainz. Das sind Perspektiven, die man sonst nicht erhält. Die Bilder werden dann auch durch die Hintergrundgeschichten besonders.“
Philipp Roling, der an der Bergischen Universität Industrial Design studiert, hat mit diesem Projekt auch gleich sein Thema für die Masterthesis gefunden, die er mit jedem neuen Fotomotiv in Deutschland weiter vorbereitet.
„Das ist die größte stereoskopische Sammlung in Europa, wenn nicht sogar in der Welt“, schwärmt er abschließend, „es ist eine Nische in der Fotografie. Und besonders beeindruckend ist es auch, weil wir Pionierarbeit leisten, indem wir die Objekte einordnen und archivieren.“
Uwe Blass
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