Prof. Dietrich Grönemeyer: Das Kreuz mit dem Kreuz

Das Kreuz mit dem Kreuz. Der Rücken ist mehr als ein Körperteil. Keiner weiss das besser, als der berühmte Mediziner Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer.

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer – © Claudio de Lucia

Was wären wir ohne die tragende Kraft unseres Rückens… Er hat uns aufgerichtet, mit dem aufrechten Gang sind wir Menschen geworden. Erst nachdem wir die Hände freibekommen hatten, waren wir in der Lage, zielgerichteter tätig zu werden, Hand und Kopf zu verbinden. Die Evolution entfernte uns vom Tierreich, bis wir schließlich mit Kultur und Zivilisation zu uns fanden. Der Rücken hatte es möglich gemacht.

Und da mag es rückschauend wie eine Ironie der Menschheitsgeschichte anmuten, dass der Rücken unter eben dieser Zivilisation zu leiden hat wie kaum ein anderer Teil unseres Körpers. An dem glücklich errungenen Fortschritt hat er im wahrsten Sinne des Wortes schwer zu tragen. Nicht nur Fehlhaltungen bei der Arbeit, mangelnde Bewegung, Übergewicht oder große Lasten, die wir ja nur noch gelegentlich heben müssen, machen ihm zu schaffen. Auch der Stress, psychischer Druck, Mobbing und andere Ängste mehr, alles, was die Hektik des modernen Alltags mit sich bringt, bekommen wir im Kreuz zu spüren.

Gefühle verändern die Muskelspannung. Menschen, die „die Zähne zusammenbeißen“, verspannen sich im Bereich der oberen Halswirbelsäule. Wer viel ertragen muss, viel „auf dem Buckel“ oder die „Angst im Nacken“ hat, hebt unbewusst die Schultern. Manchem wird „das Kreuz gebrochen“, andere „ziehen den Schwanz ein“ und versteifen im unteren Rückenbereich. 70 Prozent der Rückenleiden haben keine klare Diagnose.

Feststeht nur, dass es in über 80 Prozent der Fälle akuter Rückenschmerzen muskuläre Verspannungen sind, die ursächlich wirken, während die vielfach vermuteten Verschleißerscheinungen gerademal mit 10 und die Bandscheibenvorfälle gar nur mit 4 Prozent zu Buche schlagen. Verantwortlich dafür ist die enge Verbindung der Muskulatur mit unserem limbischen System, dem „Gefühlsorgan“ des Gehirns. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass bei 80-90 Prozent der Patienten die chronischen Rückenschmerzen mit leichten depressiven Zuständen verbunden sind. 

Das alles weiß man, gewiss. Hier wird kein Geheimnis gelüftet, keine Erkenntnis verkündet, die verwundern oder gar überraschen müsste.

Erstaunen muss nur der Umstand, dass dieser Erkenntnis in der Praxis so selten Rechnung getragen wird. Sollte das vielleicht daran liegen, dass es dazu tieferer Einsichten bedürfte, als sie die Verfahren hochentwickelter Medizintechnik eröffnen können? Die Vermutung zumindest ist naheliegend, denkt man daran, dass wir es heute mit einer vorrangig naturwissenschaftlich geprägten und körperorientierten Medizin zu tun haben. Was die modernen High-Tech-Geräte so präzise zeigen, sind aber oft und insbesondere beim Rücken nur Darstellungen der Folgen, nicht der Ursachen, auch nicht des komplexen Zusammenspiels von Muskeln, Sehnen und Bändern sowie der feinen Nervenverbindungen zu den inneren Organen.

Funktionelle Beschwerden lassen sich weder bildlich noch labormäßig erfassen. Hier bedarf es anderer Methoden und historischer Einsichten. Ist doch der Rückenschmerz zumeist ein Krankheitsphänomen, das aus dem unmittelbaren Aufeinandertreffen von Vorgeschichte und Gegenwart resultiert. Denn noch immer reagieren wir auf aktuelle Bedrohung und Überforderung mit der gleichen Abwehrhaltung wie unsere Vorfahren: Der Rücken spannt sich, wir sind auf dem Sprung, muskulär disponiert für die Flucht oder den Angriff. Da wir aber, zu Menschen geworden und zivilisatorisch gezügelt, nicht mehr wirklich wegspringen können, keine Chance besteht, die Spannung in der Aktion zu lösen, manifestiert sich die spontane Reaktion zum schmerzhaften Dauerzustand. Und damit nicht genug. Um die Pein zu vermeiden, nehmen wir unbewusst eine Schonhaltung ein. Es kommt zu einseitiger Belastung mit neuer Anspannung. Selbst weiter entfernt liegende Muskelgruppen oder Organe bekommen das zu spüren; chronische Schmerzzustände können so entstehen.

Was dann in der Regel folgt, ist die rein körperliche Untersuchungen. Und wo das zu keiner eindeutige Diagnose führt, da dient die ärztliche Vermutung zum Ansatz der Therapie. Ihr Ziel ist häufig der schnelle Sieg über die Symptome, über den Schmerz. Doch das alles bleibt, so nötig und hilfreich es sein mag – und abgesehen auch von Lähmungen oder großen Bandscheibenvorfällen, die meist als Notfälle operiert werden müssen -, nur allzu oft Stückwerk, ein Erfolg von begrenzter Dauer, solange es nicht gelingt, zu den tieferen Ursachen vorzudringen. Nur jeder dritte Patient hat nach sechs Monaten Therapie weniger Schmerzen, und dann auch nur um ein Drittel weniger.

Eine Änderung der inneren Haltung, die auf Erkenntnis des Problems fußt, würde Linderung schaffen und den Heilungsprozess unterstützen. Nur wer die Ängste oder die Lasten kennt, die unseren Rücken verspannen, kann die verkrampfenden Auswirkungen lindern. Die ständige Fehlhaltung am Computer zum Beispiel lässt sich nicht wegoperieren, sie muss geändert werden. Dieser Ansatz würde uns manche Behandlung ersparen, den Ärzten wie den Patienten. Eine Vielzahl der Bandscheiben- und Versteifungsoperationen, die jährlich in Deutschland durchgeführt werden, wäre vermeidbar, wenn es uns endlich gelänge, eine ganzheitliche Behandlung zum Standard der Rückenmedizin zu machen. Davon aber sind wir weit entfernt.

Immer noch wird eines der größten Volksleiden überwiegend somatisch, nicht auch psychosomatisch oder gar psychosozial betrachtet und behandelt. Viel zu sehr haben wir uns daran gewöhnt, den Körper mechanistisch zu verstehen, als ein handwerklich reparables Räderwerk. Die Geschichte des Rückens aber ist eine andere. Die Haltung, die wir ihm körperlich wie emotional verdanken, bedarf psychischer und sozialer Stärkung. Wo diese Kraft fehlt, drohen wir in einer gleichsam umgekehrten Evolution zu degenerieren. Die Verkrampfung, das unverstandene Reagieren wird zum Normalfall, der aufrechte Gang vom Leben gebeugt.

Schwarze Gedanken, zivilisationsmüder Pessimismus? Nein, sieht man doch, dass es nicht mehr nur die Älteren sind, die über das Kreuz mit dem Kreuz klagen. Auch 68 Prozent der Zehn- bis Sechszehnjährigen haben heute bereits Rückenprobleme. Noch vor wenigen Jahren wäre das unvorstellbar gewesen, ebenso wie die Tatsache, dass die Zahl der Rückenerkrankungen überhaupt stetig ansteigt, etwa 25 Prozent allein in den letzten 10 Jahren. Keine andere Zivilisationskrankheit, von den Folgen des Bluthochdrucks abgesehen, hat unterdessen derartige Ausmaße erreicht. Schier unübersehbar sind die volkswirtschaftlichen Auswirkungen.

23 Milliarden jährlich kosten die Behandlungen, Tendenz steigend. Nicht zu reden von den 27 Milliarden Euro Kosten, die durch rückenbedingte Arbeitsunfähigkeit anfallen. Auch von daher ist es höchste Zeit umzudenken, in der Medizin wie in der Gesundheitspolitik.

Wo und wann immer Rückenschmerzen auftreten, bedarf es einer ganzheitlichen Analyse und eines Behandlungskonzepts von „leicht nach schwer“.

Gefordert ist zuerst das solidarische und multidisziplinäre Zusammenwirken von Hausarzt, Krankengymnasten, Osteopathen, Manual- und Sporttherapeuten, Naturheilkundlern und Therapeuten psychischer Disziplinen. Erst danach ist der invasive Ansatz zu wählen, seien es Injektionen, Mikrotherapie oder Operation. Doch auch das wäre noch nicht genug. Dazukommen müssen vorbeugende Maßnahmen, nationale Vorsorgeprogramme mit Fitnesskampagnen und einer Aufklärung, die schon bei den Kindern in den Schulen ansetzt.

Der Rückenschmerz muss nicht länger der Preis für den glücklich errungenen Fortschritt sein. Nicht, wenn wir die Errungenschaften der Zivilisation von der Philosophie bis zur Technik – all das, was wir der tragenden Kraft unseres Rückens verdanken – zu einem Netzwerk ganzheitlicher Medizin zu verbinden, mit Schulmedizin und Naturheilkunde, mit Herz und High-Tech. Der aufrechte Gang sollte uns das wert sein. Unser Rücken hat es verdient.

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer

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