28. April 2021

Bergische Transfergeschichten: „Inklusion kann gelingen“

Mathematikdidaktiker Prof. Dr. Ralf Benölken beschäftigt sich an der Bergischen Universität unter anderem mit Maßnahmen der Begabtenförderung. Dabei geht es längst nicht nur um die Förderung einzelner, hochbegabter Schülerinnen und Schülern, sondern vielmehr darum, bestimmte Maßnahmen als Grundlage zu sehen, und daraus Konzepte für alle zu entwickeln.

Prof. Dr. Ralf Benölken – © Friederike von Heyden

In den Bergischen Transfergeschichten erklärt er, wie man dieser Herausforderung begegnen kann. „Heute legt man im Mathematikunterricht sehr viel Wert aufs Verstehen“, sagt Ralf Benölken, Professor in der Arbeitsgruppe Didaktik und Geschichte der Mathematik. „Ich glaube, dass sich Mathematikunterricht insbesondere an Grundschulen, aber auch an weiterführenden Schulen, sehr stark verändert hat in Bezug auf das, was die Mathematikdidaktik als guten Unterricht betrachtet.“

Prof. Benölken war selber als Lehrer tätig und weiß um die Herausforderungen, die Lehrerinnen und Lehrer zu bewältigen haben, wenn sie den Unterricht gestalten müssen. Die Wissenschaft zeichne dabei immer eine Ideallinie, an der sich die Lehrkräfte, entsprechend ihrem Schülerpotenzial, im optimalen Fall orientierten.

Dazu gehören nach Ansicht des Forschers das aktive Entdecken, unterschiedliche Herangehensweisen sowie aufgestellte Vermutungen, die dann verglichen und diskutiert würden. Kinder sollten verstehen, warum Mathematik so funktioniere. In diversen Projekten forscht der gebürtige Sauerländer an der Förderung mathematischer Begabungen, die er nicht nur auf Hochbegabte beschränkt.

Die Leidenschaft für das Fach Mathematik 

In Bezug auf eine mathematische Begabung, erklärt Benölken, „haben wir ein sehr weites und ganzheitliches Verständnis“, will sagen, sein Team beschäftigt sich nicht mit Hochbegabungen über alle Bereiche hinweg, die meist mittels Tests des Intelligenzquotienten bemessen werden. Vielmehr beschäftigen sich die Forscherinnen und Forscher mit den kindlichen Voraussetzungen, die für ein mathematisches Verständnis wichtig sind.

„Wir schauen, welche Merkmale für das Treiben von Mathematik, für mathematisches Tätigsein eigentlich interessant sind“, erklärt Prof. Benölken. „Dazu gehören zum Beispiel Fähigkeiten im Strukturieren oder Gedächtnisfähigkeiten für mathematische Sachverhalte.“ Auch ein besonderes Gefühl oder eine Sensibilität für Zahlen und Zahlenbeziehungen sei wichtig.

Was für uns auch noch dazugehört, ist, dass man zum Beispiel besonders anstrengungsbereit ist, wenn man Mathematik betreibt, dass man eine besondere Leidenschaft für das Fach empfindet.“ Genaue Beobachtungen der individuellen Entwicklungsprozesse der Kinder und ein Nachvollziehen ihrer Denkprozesse seien wichtig. Daher griffen die herkömmlichen Testverfahren in Bezug auf die Mathematik auch nicht.

Prof. Benölken: „Wir würden ein Kind, das nach unseren diagnostischen Instrumenten die Begabungsmerkmale, wie zum Beispiel die Fähigkeiten im Strukturieren usw. auch auf mittelmäßigem Niveau ausgeprägt hat, Mathematik aber unheimlich gerne macht, niemals als mathematisch nicht begabt bezeichnen.“

„Ich selber beschäftige mich mit mathematischen Begabungen“, berichtet er weiter – seit nunmehr 15 Jahren. Dabei sind mittlerweile auch assoziierte Themen in seinen Fokus gerückt. „Insbesondere in jüngerer Zeit ist es die inklusive Bildung“, erzählt er, „also die Idee, eine spezielle Begabtenförderung als Förderung besonderer Begabungen und Interessen zu weiten und zu fragen, wie kann ich denn Konzepte aus diesem speziellen Bereich verwenden, um wirklich alle Kinder zu fördern.“

Die Planung von inklusivem Unterricht, bei dem alle Schülerinnen und Schüler im Rahmen ihrer Möglichkeiten gefördert werden und am Unterrichtsgeschehen teilnehmen können, stellt Lehrkräfte vor eine große Herausforderung. Gleichzeitig ergibt sich die Frage nach der Machbarkeit eines solchen Unterrichts in Zeiten von Lehrermangel und fehlendem zusätzlichen Personal. Benölken sieht das Problem einerseits in zu geringen Investitionen sowie einer bisher fehlenden, auf Inklusion hin angelegten Ausbildung der Studierenden – wenngleich sich hier zunehmend deutliche Verbesserungen zeigten.

„Ich sehe die große Herausforderung an die Lehrkräfte, die teilweise ganz anders ausgebildet sind, nun die Idee konsequenter inklusiver Bildung umsetzen zu müssen. Das verlangt den Lehrkräften schon einiges ab.“ Ein machbarer Weg aus dieser Misere sei vor allem zunächst eine positive Grundhaltung.

„Natürlich kann Inklusion gelingen“, appelliert der Akademiker, „weil es ethisch-moralisch das Richtige ist! Man schließt niemanden aus. Wir müssen begreifen, dass wir als Gesellschaft alle zusammengehören, egal welchen Hintergrund jemand mitbringt. Haltung ist für mich ein ganz wichtiges Primat hier.“

Dazu brauche man dann selbstverständlich auch eine angemessene Raum- und Lehrmittelausstattung, eine vernünftige Ausstattung für multiprofessionelle Teamarbeiten und mit Blick auf den Mathematikunterricht auch vernünftige digitale Ausstattungen.

Projekte können helfen, den Unterricht zu verbessern

Ralf Benölken ist u. a. an dem Projekt „Leistung macht Schule“ (LemaS) beteiligt, durch das leistungsstarke Kinder und Jugendliche noch gezielter unterstützt werden sollen.  „Das ist wirklich schon ein sehr großes Projekt. Im Prinzip auch ein Phänomen, weil sich da Bund und Länder für ein gemeinsames Projekt in Bildungsfragen zusammengeschlossen haben.“ Dazu versuche man aus der Perspektive der Förderung besonders leistungsstarker Schülerinnen und Schüler die Unterrichtsgestaltung auf alle Mitschüler ausweitend weiterzuentwickeln und nutze dazu diverse Module.

„In der Mathematik, und da bin ich mit meiner Mitarbeiterin und einigen Kolleg*innen aus Münster verortet, haben wir innerhalb dieses Projektes eine breite Angebotspalette. Wir entwickeln gemeinsam mit bundesweit insgesamt 20 Kooperationsschulen besondere mathematische Aufgabenfelder und erstellen Konzepte für sogenannte Enrichmentgruppen (Enrichment, also Anreicherung/Bereicherung, bezeichnet hier ein pädagogisches Modell zur Förderung von begabten, interessierten und engagierten Schülerinnen und Schülern, Anm. d. Red.) und für Drehtürmodelle.

Das sind wiederum ergänzende Maßnahmen, in die Kinder parallel zum Mathematikunterricht gehen können.“ Ferner erarbeitet das Projekt auch Konzepte für Fortbildungen für Lehrkräfte. Bei der Auswahl der beteiligten Schulen arbeitet Benölken aus NRW mit Einrichtungen aus Bonn, Iserlohn, Düsseldorf, Duisburg und Schwerte zusammen, jedoch nicht mit einem Lehrbetrieb aus dem Bergischen Land, was der Didaktiker ein wenig bedauert.

Doch Benölken treibt die Vernetzung voran und sagt: „Mein Team und ich haben hier u. a. ein Projekt namens „Think“ – Treffen matHematisch INteressierter Kinder. Da kommen zu Normalzeiten außerhalb der Pandemie alle zwei Wochen Kinder zu uns an die Universität, um mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie  Studierenden zu arbeiten.

Dieses Projekt ist für uns gleichzeitig auch eine Infrastruktur, unsere Materialien aus dem LemaS-Projekt zu erproben. Und bei diesem speziellen Projekt arbeiten wir natürlich nur mit Schulen aus Wuppertal, Remscheid und Solingen zusammen.“

Überhaupt ist es dem Pädagogen wichtig zu betonen, dass die Zusammenarbeit mit Bergischen Schulen seit Jahren gut läuft. „Wir haben mit einem Großteil der Wuppertaler Schulen und etlichen Schulen aus dem Umland in den letzten Jahren schon zusammengearbeitet. Das waren zwar lokal verankerte Projekte, die ich aber nicht von dieser großen Initiative abgrenzen würde, auch wenn sie formal nicht dazu gehören.“

Lehr-Lern-Labore als Vorstufe zum Referendariat

Lehr-Lern-Labore sind Begegnungsstätten, wo sich Schüler, Studierende und Wissenschaftler auf Augenhöhe begegnen und voneinander lernen. Schüler erhalten dort Anregungen zum selbständigen Lernen und Studierende, in ihrer Funktion als angehende Lehrpersonen, können schon vor dem Referendariat Theorie- mit Praxiserfahrungen verknüpfen.

Neben dem genannten „Think“-Projekt, bietet Benölkens Team auch das Lehr-Lern-Labor-Projekt MaThletics (Bewegtes Lernen im Mathematikunterricht der Grundschule) an und bereitet ein drittes Angebot vor, das andere, bereits bestehende Angebote an der gesamten Uni ergänzt.

„Wir sind dabei, dass diese Lehr-Lern-Labore ein standortprägendes Merkmal für die Fachdidaktik und die Lehramtsausbildung in Wuppertal werden können“, denn die Lehramtsausbildung sei immer noch sehr theorielastig. Man wolle auf keinen Fall der Referendariatsausbildung vorgreifen, aber es gehe darum, den Studierenden schon im Vorfeld Primärerfahrung zu vermitteln.

„Da erfüllen die Labore eine ganz wichtige Funktion in den Lehramtsstudien. Kompetenzen im Diagnostizieren und Fördern, sei es zur Begabung oder in anderen Kontexten, können hier über eine sehr viel nachhaltigere Art und Weise bei Studierenden entfaltet werden. Und es entstehen ja auch Bindungen zwischen den Kindern und den Studierenden.“

Die Tatsache, dass viele Lehramtsstudierende gleich mehrere Lehr-Lern-Labore belegen, zeugt von enormem Engagement und bestätigt Benölken in der Ausweitung dieses Formats. „Ich kann belegen, dass Studierende das als sehr gewinnbringend reflektieren, in den Laboren mitzumachen.

Meistens in einer Form, dass die sagen: Ich habe hier in Bezug auf Begabung etwas zum Diagnostizieren und Fördern gelernt und das hilft mir für meine berufliche Zukunft sehr. Ich habe so eine Art diagnostische Brille entwickelt, die bezieht sich nicht nur auf Begabung. Ich sehe jetzt auch bei lernschwächeren Kindern mehr, worauf es ankommt und kann Denkprozesse besser analysieren.“

Und damit schließt sich auch wieder der Kreis, denn die Lehr-Lern-Labore fördern vor allem auch eines: das Verstehen. Und das ist doch die Voraussetzung guten Unterrichts.

Uwe Blass

 

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