11. Januar 2017

Sozialdezernent Dr. Stefan Kühn: „Jedes 3. Kind wächst in Armut auf!“

Kühnheit siegt! Dr. Stefan Kühn, Wuppertals Dezernent für Soziales, Jugend, Schule und Integration, hat keine Angst vor großen und schwierigen Aufgaben, sondern sieht sie als Herausforderung. Dabei hilft dem gebürtigen Kölner ein Schuss rheinischer Humor.

Sozialdezernent Dr. Stefan Kühn – © Stadt Wuppertal

Über alle Parteigrenzen genießt der überzeugte Sozialdemokrat, der vor Jahren mit dem heutigen Wuppertaler Oberbürgermeister Andreas Mucke ein erfolgreiches Kabarett-Duo bildete, hohes Ansehen. Gerade erste wurde er vom Rat der Stadt fast einstimmig für weitere acht Jahre in seinem Amt bestätigt. Die elegante Fliege, die Dr. Stefan Kühn immer trägt, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegt, ist sein Markenzeichen.

Er kann aber auch hemdsärmelig sein, wenn es sein muss. Und er ist auch in der Lage, Niederlagen und Rückschläge wegzustecken. In einem überaus ehrlichen Interview mit STADTZEITUNGS-Redakteur Peter Pionke gibt Dr. Stefan Kühn Einblicke in seine Gefühlswelt preis.

DS: „Wuppertal sozial gestalten“ – wie schwer ist diese Aufgabe in Zeiten von täglich ankommenden Flüchtlingen?

Dr. Stefan Kühn: „Dezernent für Soziales, Jugend, Schule und Integration zu sein, ist die schönste Aufgabe, die man in Wuppertal haben kann. Weil man die Chance hat, die Entwicklung unserer Stadt unter anderem im sozialen Bereich zu gestalten. Dazu gehört auch die Integration von Flüchtlingen. Wie ich meine, haben wir diese Aufgabe bisher mit Bravour gelöst.“

DS: In vielen anderen Städten werden Flüchtlinge beschimpft und zum Teil sogar angegriffen. In Wuppertal gibt es noch eine Willkommens-Kultur. Worauf führen sie das zurück?

Dr. Stefan Kühn: „Wuppertal ist ja schon seit vielen Jahren bekannt als eine weltoffene und tolerante Stadt, als eine Stadt der Vielfalt. Ich habe mal gefrotzelt: ‚Wuppertal ist eine Stadt, in der Barmer und Elberfelder friedlich zusammen leben, da kriegen wir den Rest auch noch hin‘. Doch Scherz beiseite. Etwa 35 Prozent der hier lebenden Bürger haben eine Zuwanderungsgeschichte. 100.000 der heutigen Wuppertaler stammen aus einem anderen Land oder deren Eltern wurden nicht hier geboren. Wir haben einfach gelernt, in dieser Vielfalt gerne miteinander zu leben. Insofern können wir auf der Kultur des Miteinanders aufbauen. Aber wir sind auch nicht die Insel der Glückseligen. Auch bei uns werden vereinzelt Zuwanderer beschimpft.“

DS: Welche Probleme sehen Sie bei der Integration von Flüchtlingskindern in Wuppertaler Schulen?

Dr. Stefan Kühn: „Das würde ich gerne etwas weiter fassen. Wir schauen im Moment nur auf die Flüchtlinge. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Wir erleben nämlich seit vier Jahren eine neue Phase von Zuwanderung. Wuppertal ist über viele Jahre um 2.500 Einwohner pro Jahr geschrumpft. Wir waren einmal 410.000, dann irgendwann 345.000. Das hat sich vor vier Jahren gedreht. Es gibt seither eine massive europäische Binnenwanderung. Junge Menschen aus Griechenland, aus Spanien, aus Italien, aus Polen, Rumänien oder Bulgarien, suchen bei uns ihr Glück. Seitdem wächst unsere Einwohnerzahl wieder. In den Seiteneinsteiger-Klassen unserer Schulen sitzen auch heute immer noch mehr Kinder, die aus dem europäischen Raum stammen, als Flüchtlingskinder. Wir haben derzeit 88 Seiteneinsteiger-Klassen mit 1.500 Kindern. Diese müssen nach zwei Jahren in den regulären Unterricht. Eine Riesen-Herausforderung.“

DS: Von Ihnen stammt der Vorschlag, z.B. die ehemalige Hauptschule Langerfeld oder die ehemalige Grundschule Uellendahl zu reaktivieren. Was versprechen Sie sich davon?

Dr. Stefan Kühn: „Auf meinen Vorschlag hin hat der Stadtrat beschlossen, dass der alte Schulentwicklungs-Plan angepasst werden muss. Zu Zeiten sinkender Schülerzahlen hätte es sicher Sinn gemacht, den Rückbau von Schulraum zu organisieren, weil Schule ohne Schüler ja auch keinen Sinn macht. Deswegen haben wir viele Schulen geschlossen. Jetzt gibt es aber eine völlig neue Situation: Wir haben wieder mehr Kinder und brauchen folglich auch mehr Schulraum. Wir haben Seiteneinsteiger-Klassen, wollen zudem das Ganztagesschul-Angebot ausbauen, wollen, dass behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen. Aufgrund dieser neuen Entwicklung müssen alte Beschlüsse den neuen Gegebenheiten angepasst werden und wir planen jetzt auch wieder mit Schulen wie Langerfeld und Uellendahl, die eigentlich aufgelöst werden sollten.“

DS: Wird Wuppertal in naher Zukunft überhaupt um den Neubau von Schulen herumkommen?

Dr. Stefan Kühn: „Wir brauchen mehr Schulraum. Deshalb nutzen wir jetzt erst einmal Raumreserven, die es in den Schulen noch gibt. Wir haben ja schon die 88 Räume für die Seiteneinsteiger-Klassen aus dem vorhandenen Bestand generiert. Und wir werden sicher den einen oder anderen Schul-Anbau ins Auge fassen müssen. Ob wir aber wirklich komplette Neubauten brauchen, bezweifele ich. Wir haben den Mehrbedarf an Schulräumen ja nicht an einer Stelle, sondern über die ganze Stadt verteilt.“

DS: Können Sie ein konkretes Beispiel für die neue Strategie nennen?

Dr. Stefan Kühn: „Das Land NRW hat gerade ein Programm aufgelegt, 72 Millionen Euro in Stadtteilentwicklung zu investieren. In dem Zusammenhang habe ich vorgeschlagen, dass wir drei ehemalige Hausmeisterwohnungen in Schulraum umbauen. Das würde insgesamt eine Million Euro kosten. Wenn das Land den Umbau genehmigt, würden wir einen Zuschuss in Höhe von 90 Prozent erhalten. Also bekommen wir dann für 100.000 Euro eigenes Geld zusätzlichen Schulraum im Werte von einer Million Euro. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Das löst nicht alle unsere Probleme. Aber überall, wo man eine Chance sieht, sollte man zugreifen.“

DS: Was entgegnen sie denn Eltern, die befürchten, dass ihre Kinder nicht genug Bildung und Wissen mitbekommen, weil ihrer Meinung nach das Lern-Tempo zwangsläufig allein wegen der Sprachprobleme der Flüchtlingskinder gedrosselt werden muss?

Dr. Stefan Kühn: „Es gibt ‚sonne‘ und ‚sonne‘. Bei Kindern, die hier geboren wurden, wie auch bei Flüchtlingskindern. Mir hat gerade erst ein Lehrer erzählt, dass es für ihn entspannend sei, wenn er in eine Seiteneinsteiger-Klasse ginge. Die Kinder dort seien aufmerksamer und z.B. im Fach Mathematik sogar qualifizierter. Er versicherte mir, er hätte größere Probleme, das Lernniveau in den Klassen mit den einheimischen Schülern hoch zu halten, als in den Seiteneinsteiger-Klassen. Es wird sicher notwendig sein, dass das Lehrpersonal zieldifferent unterrichtet. Man wird manche Kinder nicht in der Zeit zum Schulabschluss führen können, wie die anderen. Deswegen wird es auch zwangsläufig unterschiedliche Geschwindigkeiten beim Abschluss geben. Erfahrene Pädagogen sind ja auch davon überzeugt, dass Kinder auch dadurch lernen, dass sie andere Schüler unterstützen. Das ist wie mit dem Pfusch-Zettel, schon das Schreiben dieses Zettels ist meistens die Ausreichende Vorbereitung auf die Klassenarbeit. Ich kann die Sorgen der Eltern verstehen, sie sind aber zumeist unbegründet. Viel größer ist das Problem, dass Stellen ausgeschrieben werden, der Markt aber leergefegt ist. Die Folge ist dann, dass aus anderen Klassen Lehrer abgezogen werden müssen, um die Schulpflicht für alle Kinder zu gewährleisten.“

DS: Wie sehr sind Sie mit der Arbeit des „Kommunalen Integrations-Zentrums“ zufrieden, das für die Verteilung der Flüchtlingskinder auf die einzelnen Schulen zuständig ist?

Dr. Stefan Kühn: „Die Kolleginnen und Kollegen machen einen hervorragenden Job. Anders als in vielen anderen Städten beteiligen sich in Wuppertal alle Schulformen an dieser Aufgabe. Ich höre z.B. von Direktoren aus dem Gymnasial-Bereich, dass es unglaublich ist, was zum Teil junge Flüchtlinge leisten. Sie kommen praktisch ohne Sprachkenntnisse hierhin und sind nach kürzester Zeit soweit, dass die Schule davon ausgeht, dass sie das Abitur schaffen. Wenn es darum geht, die hochqualifizierten Flüchtlinge herauszufiltern, hat das „Kommunale Integrations-Zentrum“ natürlich eine wichtige Schlüsselfunktion.“

DS: Fühlen Sie sich nicht manchmal von den Regierungen in Düsseldorf und Berlin ein wenig im Stich gelassen?

Dr. Stefan Kühn: „Als Kommunaler hat man wirklich manchmal das Gefühl: Den Letzten beißen die Hunde. Wir haben seit vielen Jahren kommunale Armut. Wir bekommen viel mehr Aufgaben aufs Auge gedrückt, als wie tatsächlich stemmen können. In 15 Jahren konnten wir nur zweimal die Zuschüsse an die sozialen Träger erhöhen. Denen geht langsam die Luft aus. Wir haben den guten und richtigen Auftrag, die Kitas auszubauen, wissen aber kaum noch, wie wir das finanzieren sollen. Wir haben viel mehr Aufgaben als Finanz-Ressourcen. Das beobachte ich mit großer Sorge. Nur der Reiche kann sich einen armen Staat leisten.“

DS: Das ist eine schöne Metapher. Aber jetzt einmal konkret, was muss Ihrer Meinung nach getan werden?

Dr. Stefan Kühn: „Wir müssen darüber sprechen, wie die finanzstrukturschwachen Städte in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben zu erfüllen. „Bildung für alle und Bildung von Anfang an“ sind ganz wichtige Investitionen. US-Präsident John F. Kennedy hat einmal treffend formuliert: ‚Nur eines ist teurer als Bildung, nämlich keine Bildung‘. Wenn ich in die Chancen der Gesellschaft investieren will, dann geht das nur über Bildung. Ein Handwerks-Meister hat sich kürzlich beklagt: ‚Wir haben nicht genug qualifizierte und motivierte Auszubildende‘. Insofern ist ein Zuzug von jungen Leistungsträgern ja eine Riesen-Chance. Wer hierhin kommt, ist in der Regel jung, stark und hat sein Leben nicht aufgegeben. Wer resigniert hat, der bleibt in den Herkunftsländern. Die Flüchtlinge könnten so eine Art Frischzellen-Kur für unsere immer älter werdende Gesellschaft werden.“

DS: Die ‚Alte Feuerwache‘ erteilt Flüchtlingskindern kostenlos Deutsch-Unterricht. Die Mandolinen-Gesellschaft beschenkt Flüchtlingskinder mit Mandolinenunterricht als Integration-Maßnahme. Wo kann jeder Einzelne noch helfen, noch mit anpacken?

Dr. Stefan Kühn: „In Wuppertal ist etwas bundesweit Vorbildliches passiert. Hier hat sich aus der Zivilgesellschaft heraus unheimlich viel ehrenamtliches Engagement entwickelt. Es sind Flüchtlings-Initiativen entstanden. Viele Menschen bringen sich ein, ehemalige Lehrerinnen und Lehrer, Ärztinnen und Ärzte – außerdem gibt es sehr viele Sachspenden. Da ist eine echte Bürgerbewegung entstanden und ich empfehle immer, sich an einer Flüchtlings-Initiative zu beteiligen. Das ist ein Kreis von Menschen, der gemeinsam überlegt, was ist jetzt das passgenaue Angebot, wer kann was einbringen? Das einmalige Engagement wird auch weit über den Grenzen Wuppertals wahrgenommen. Die „Zeit“ hat eine Umfrage gemacht: Wie engagieren sich die Städte in Deutschland bei der Integration von Flüchtlinge? Der Artikel schließt dann mit dem Satz: „Deutschland braucht mehr Wuppertal“. Ein schöneres Kompliment kann es gar nicht geben.“

DS: Ein schönes Kompliment. Aber nicht alle Wuppertaler stehen mit offenen Armen am Straßenrand…

Dr. Stefan Kühn: „Das ist richtig. Auch hier gibt es Menschen, die sich wegen der Flüchtlinge Sorgen machen, Ängste haben vor dem Unbekannten, das ist auch nichts Ehrenrühriges und auch nichts Rechtsradikales. Wir müssen diese Sorgen und Ängste ernst nehmen. Ich fordere die Einwohner auf Bürgerversammlungen immer ausdrücklich auf, ihre Sorgen und Ängste ganz klar zu artikulieren. Denn dann kann ich Fakten sprechen lassen, nämlich dass die Kriminalitätsrate in der Nähe von Asylantenheimen definitiv nicht angestiegen ist, dass die Straßen und Heime nicht im Müll ersticken, dass der Lärmpegel nicht übermäßig hoch ist. Wir haben extra eine Hotline geschaltet, wo jeder sich beschweren kann.“

DS: Losgelöst von der Flüchtlingsfrage. Die Anstellung von Lehrern ist Landessache. Aber auch Sie registrieren doch sicher auch, dass immer mehr Unterricht ausfällt. Fühlen Sie sich da ohnmächtig oder insistieren Sie da in irgendeiner Form?

Dr. Stefan Kühn: „Natürlich insistieren wir! Und wir haben auch gute Karten beim Land NRW. Allein im letzten Jahr sind landesweit 3.500 neue Lehrerinnen- und Lehrer-Stellen geschaffen worden. Die haben richtig ins Portemonnaie gepackt. Wir in NRW haben das Glück, dass wir die Lehramtsausbildung wegen der sinkenden Kinderzahlen nicht zurückgefahren haben. NRW hat Gottseidank die Zahl hoch gelassen, weil es geplant war, irgendwann die Klassen zu verkleinern. Das ist jetzt natürlich Illusion. Aber immerhin haben wir hier die Hoffnung, dass die Lücke nicht ganz so groß wird, wie in anderen Bundesländern. Integration ist eine Gemeinschaftsaufgabe der gesamten Gesellschaft. Eine bekannte Politikerin hat mal gesagt: „Wir schaffen das!“ Wir in Wuppertal sind schon einen Schritt weiter und können sagen: „Wir machen das!“

DS: In Sachen Bildung ist Wuppertal ja nicht gerade schlecht aufgestellt, was muss noch verbessert werden?

Dr. Stefan Kühn: „Wir haben zwei Bereiche, wo wir – ehrlich gesagt – nicht gut genug aufgestellt sind. Einerseits bei Betreuungs-Plätzen für die unter Dreijährige und andererseits bei der offenen Ganztagsbetreuung für die Kinder in der Grundschule. Das muss man zugeben, obwohl wir die Zahl der Plätze für die unter Dreijährigen in den letzten sieben Jahren verzehnfacht haben. Aber der Bedarf ist eben auch gestiegen.“

DS: Selbst viele Mütter bemängeln, dass ihre Kinder nur fast ausschließlich von Frauen unterrichtet werden, wie sehen Sie diese Entwicklung?

Dr. Stefan Kühn: „Viele Jungen haben ihren ersten Kontakt zu einer männlichen Bezugsperson, wenn sie in eine weiterführende Schule kommen. Ich halte das pädagogisch für nicht richtig. Auch Jungen brauchen manchmal einen Mann als Bezugspartner. Wenn Männer und Frauen ihre jeweiligen Stärken gemeinsam in eine Waagschale werfen, ist das sicherlich besser. Diese Entwicklung liegt nicht zuletzt an den Rahmenbedingungen. Warum verdient eine Lehrerin oder ein Lehrer am Gymnasium deutlich mehr als eine Kollegin oder ein Kollege an einer Grund- oder Hauptschule. Eigentlich müsste man doch sagen: Auf den Anfang kommt es an! Wir haben aber ein historisch gewachsenes 200 Jahre altes Bild von Bildung. Und das gegen den europäischen Trend. In den erfolgreichen Bildungsnationen gibt es eine einheitliche Lehrerausbildung. Eigentlich bräuchten wir die besten Lehrer im Primarbereich. Andere Länder sind da ein Stück weiter als wir.“

DS: Welche Argumente haben Sie parat, um männlichen Abiturienten den Beruf des Lehrers schmackhaft zu machen?

Dr. Stefan Kühn: „Bildung ist das, was einen Menschen prägt. Bildung ist das, was nicht nur Inhalte, sondern auch Werte vermittelt. Bildung ist die Chance, die Gesellschaft im positiven Sinne zu prägen. Bildung brauchen wir alle, um unseren Wohlstand zu erhalten. Wir sind eine wissensorientierte Gesellschaft. Wenn man den Lehrerberuf ergreift, dann tut man etwas für die Entwicklung von Menschen und für die gesamte Gesellschaft. Es ist zudem ein hochinteressanter Beruf, absolut krisensicher, nicht zuletzt weil Erzieher und Lehrer in den nächsten Jahren händeringend gesucht werden.“

DS: Ihr Ressort deckt ja eine große Bandbreite ab. Welcher Bereich liegt Ihnen da besonders am Herzen?

Dr. Stefan Kühn: „Alle Eltern wissen, dass man alle seine Kinder gleich liebt….“

DS: … und welcher Bereich bereitet Ihnen die größten Sorgen?

Dr. Stefan Kühn: „Sorgen bereitet mir eigentlich gar kein Bereich. Aber es gibt natürlich immer wieder einmal unterschiedliche Schwerpunkte. Ein Beispiel: 2011 sind 270 Flüchtlinge in unsere Stadt gekommen, im Jahr 2015 waren es 3.000. Wenn man innerhalb so kurzer Zeit eine Verzehnfachung der Zahl von Flüchtlingen hat, bedeutet das natürlich, dass man dann in dem Bereich viel mehr gefordert ist als in anderen Bereichen.“

DS: Wie viele Wuppertaler müssen denn vom Existenzminimum leben?

Dr. Stefan Kühn: „Man muss leider sagen, das jedes dritte Kind in unserer Stadt unter den Bedingungen von Armut aufwächst. Von den Erwachsenen leben rund 15 Prozent der Wuppertaler Bürger vom Existenzminimum. Das ist ein erschreckender Befund. Das hat letztendlich mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel zu tun. Wuppertal war eine klassische Industriestadt. Viele dieser Firmen gibt es nicht mehr. Ganz viele Tätigkeiten sind von Maschinen übernommen oder ins Ausland verlagert worden. Wir haben heute deutlich weniger Arbeitsplätze in der Stadt als vor 20 Jahren. Auch deswegen bin ich ein vehementer Verfechter des Themas zweiter Arbeitsmarkt. Wir müssen uns überlegen, ob wir nicht lieber Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Das wäre für alle besser, insbesondere auch für die Kinder. Denn es gibt Kinder, die in einer Familie aufwachsen, in der der Großvater der letzte war, der noch Arbeit hatte. Dort wird der Staffelstab von Chancen-Ungerechtigkeit von Generation zu Generation weitergegeben.“

DS: In Ihrem Job sehen Sie auch die Schattenseiten des Lebens: Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Altersarmut. Wie schaffen Sie es, diese Eindrücke aus Ihrem Privatleben zu verbannen?

Dr. Stefan Kühn: „Diese Eindrücke sind Teil meines Privatlebens. Ich klinke mich ja abends nicht so einfach aus und sage mir: ‚Jetzt bist Du ein ganz anderer!‘ Das Schicksal dieser Menschen berührt mich sehr! Auf der anderen Seite bin ich dankbar für das Glück, das ich in meinem Leben habe. Das Glück von Gesundheit, das Glück von beruflichem Erfolg. Und ich nehme natürlich auch mit großer Genugtuung wahr, dass sich Wuppertaler für die Menschen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, engagieren. Mich berührt die Lebensfreude, die ich durch meinen Zivildienst in der Lebenshilfe Wuppertal bei behinderten Menschen erlebt habe. Diese Eindrücke will ich gar nicht aus meinem Privatleben verbannen. Man bekommt so viel zurück. Deshalb darf man sich den Wuppertaler Sozialdezernenten als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

DS: Sie wollten Landrat im niedersächsischen Wesermarsch-Kreis werden, haben die Wahl aber verloren und sind in Wuppertal geblieben. Wie enttäuscht sind Sie?

Dr. Stefan Kühn: „Überhaupt nicht. Ich habe mich aus familiären Gründen für dieses Amt beworben, weil die Seeluft an der Nordseeküste meiner Frau besser bekommen würde. Sie leidet sehr stark an Allergien. Deshalb wollte ich mein geliebtes Wuppertal verlassen. Das hatte also nichts mit Wuppertal oder meiner Arbeit zu tun. Es war eine höchstpersönliche Entscheidung. Aber wie das so in einer Demokratie ist, hatten die Wähler die Wahl zwischen zwei Personen und sie haben sich für den anderen Kandidaten entschieden. Das ist Demokratie und das ist gut so.“

DS: Wie stehen Sie als Sozial-Dezernent zum Thema FOC?

Dr. Stefan Kühn: „Fachlich habe ich da ja keinen Berührungspunkt. Ich persönlich glaube aber, dass es eine Riesen-Chance für Wuppertal ist. Weil zehntausende Menschen Wuppertal besuchen, dadurch zusätzliche Kaufkraft nach Wuppertal kommt und zusätzliche Arbeitsplätze in Wuppertal entstehen werden. Natürlich gibt es Risiken für Verlagerungen innerhalb des Einzelhandels. Aber insgesamt wird Wuppertal dadurch gewinnen. Die Besucher sind ja Menschen, die Shopping als Event begreifen. Das bedeutet, sie gehen ins FOC und überlegen dann, was machen wir heute noch in Wuppertal. Und vielleicht erkunden die Gäste unsere Stadt demnächst mit der traditionsreichen Schwebebahn und der megamodernen Seilbahn.“

DS: Wie sehen Sie solche gemeinnützigen Vereine wie „Wuppertal hilft!“, der mit seinem Benefiz-Festival in der Unihalle über 50.000 Euro zugunsten der „Wuppertaler Tafel“ erwirtschaftet hat?

Dr. Stefan Kühn: „Das sind Ehrenamtsprojekte, die in der Champions League spielen. Das sind wirklich herausragende Ereignisse, bei denen Menschen ihre Möglichkeiten nutzen, um Gutes zu tun. Hier ist es ja eine tolle Mischung. Künstlerinnen und Künstler bringen sich mit dem, was sie geben können, nämlich der Kultur, dafür ein, dass Menschen einen schönen Abend mit kulturellen Highlights erleben können. Und mit den Einnahmen wird dann eine karitative Einrichtung unterstützt. Wirklich Champions League des Ehrenamts.“

DS: Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht hinter Ihrem Schreibtische sitzen oder an Besprechungen und Tagungen teilnehmen?

Dr. Stefan Kühn: „Es gibt zwei Hobbies. Das eine ist der Garten und das noch größere Hobby ist das Lesen. Ich bin sehr interessiert an Biographien, Bücher über Zeitgeschichte und auch aktuelle politische Ereignisse. Ich lese aber auch gerne einmal einen Krimi zur Entspannung.“

DS: Wenn die berühmte Fee bei Ihnen anklopfen würde, um Ihnen 100 Millionen Euro in die Hand zu drücken, was würden Sie mit diesem Geld machen?

Dr. Stefan Kühn. „50 Millionen Euro würde ich sofort bei Seite legen, damit ich und meine Nachfolger in den nächsten Jahren noch die Mittel haben, Wünsche zu erfüllen. Die anderen 50 Millionen Euro würde ich dazu nutzen, die Infrastruktur im Bereich Soziales, Jugend, Schule und Integration auszubauen und Möglichkeiten zu schaffen, dass Menschen sich begegnen. Und ich würde migrantischen Vereinen, die bislang ohne öffentliche Zuschüsse auskommen müssen, Mittel zur Verfügung stellen. Sie sind nämlich wichtige Motoren der Integration.“

DS: Sie sind ja von den Wuppertaler Karnevalisten zum Ritter geschlagen worden. Fühlen Sie sich eigentlich unter der Narrenkappe wohl?

Dr. Stefan Kühn: „Ich bin ja gebürtiger Kölner und mit Kölsch getauft. Das prägt fürs ganze Leben. Obwohl meine Familie mit mir an den Niederrhein zog, als ich sechs Monate alt war, wurde Karneval regelmäßig gefeiert. Das war das wichtigste Ereignis im Jahr, wir haben gemeinsam vor dem Fernseher gesessen. Oma ist sogar immer zum Zug nach Köln gefahren. Es gibt insofern eine enge Verbindung zum Karneval und eine erfahrungsfreie Liebe zu Köln. „Denn wenn dat Trömmelche jeeht“, so heißt es in einem bekannten Karnevalslied, dann fühle ich mich sofort angesprochen, dann höre ich Musik, die ich ansonsten nicht höre, singe ich Texte, die ich sonst nicht singe. Das gehört bei mir dazu. Und ganz rational: Für mich ist es wichtig, neben all den schwierigen Themen auch Freude am Leben zu haben.“

DS: Was bedeutet für Sie Freizeit?

Dr. Stefan Kühn: „Das ist die Zeit, von der es für mich sehr wenig gibt. Ein Moment von Freiheit, man steht ja ansonsten doch immer irgendwie in der Öffentlichkeit.“

DS: Was sagt eigentlich Ihre Fliege über SIE als Persönlichkeit aus?

Dr. Stefan Kühn: „Das ich Vielfalt mag.“

DS: Das rathausinterne Duell der Fliegenträger haben Sie ja für sich entschieden. Ihr Kollege Dr. Slawig hat aufgegeben und ist auf Krawatte oder „oben ohne“ umgestiegen. Genugtuung?

Dr. Stefan Kühn: „Wir Sozialdemokraten setzen uns seit über 150 Jahren für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ein. Daher haben wir einfach den längeren Atem.“

DS: Vielen Dank für das sehr interessante Gespräch.

Das Interview führte Peter Pionke

Entweder oder?

Die Stadtzeitung fragt…               Dr. Stefan Kühn antwortet…

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Vita Dr. Stefan Kühn

Dr. Stefan Kühn wurde 1962 in Köln geboren. Als er sechs Monate alt war, zog er mit seiner Familie an den Niederrhein. Nach dem Abitur machte er eine Ausbildung zum Rechtspfleger am Amtsgericht Wuppertal. Seinen Zivildienst leistete Dr. Stefan Kühn bei der „Lebenshilfe Wuppertal“ ab. Anschließend studierte er Sozialwissenschaft. Von 1989 – 1993 war er SPD-Stadtverordneter im Rat der Stadt Wuppertal. Über den Kommunalverband Ruhrgebiet in Essen landete er schließlich beim Bundesverband der Landesbausparkassen (LBS) in Bonn und übernahm dort die Funktion des Leiters der Öffentlichkeitsarbeit. Anschließend wurde Dr. Stefan Kühn Geschäftsführer der SPD-Ratsfraktion Wuppertal. Seit 2000 ist er Dezernent für Soziales, Jugend und Integration der Stadt Wuppertal. 2014 übernahm er zudem noch das Schuldezernat. Im März 2016 wurde Dr. Stefan Kühn vom Rat der Stadt nahezu einstimmig für weitere acht Jahre als Dezernent wiedergewählt. Der beliebte Beigeordnete ist verheiratet.

 

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