Alzheimerkrankheit: Buchbesprechung mit Annegret Bock zur Pandemie des 21. Jahrhunderts

 © mickyso / Fotolia.com

Am Anfang stehen oft ungelöste seelische Probleme …

Die Erinnerungsfähigkeit zu verlieren, ist vielleicht eine der schlimmsten Formen menschlichen Leids, weil sie uns der Fähigkeit beraubt, Glück zu empfinden. Die Wahrscheinlichkeit an Alzheimer, einer Unterform der Demenz, zu erkranken, liegt heute bei über 50 Prozent. Diese schockierende Prognose beschäftigt eine Vielzahl von Menschen, so auch die Wuppertaler STADTZEITUNGS-Leserin Annegret Bock (74). Ihr ist es ein großes Bedürfnis, von ihren Erfahrungen zu berichten, die sie im Umgang mit dieser Krankheit gemacht hat. Annegret Bock – sie lässt Wuppertals Originale Mina Knallenfalls und Zuckerfritz bei den ‚Plattkaller-Abenden‘ mit Lore Duwe im „Kontakthof“ lebendig werden.

Sie hat in der eigenen Familie Erfahrungen mit der Krankheit gemacht. Ihr Mann Heinz Bock war einer die Richter im Bartsch-Prozess. Annegret Bock ist davon überzeugt, dass diese Herausforderungen und Belastungen mit auslösenden Charakter hatten und glaubt, hier erste Anzeichen von Alzheimer erkannt zu haben. Erfahrungen sammelte sie zudem als „Rosa Dame“, eine ehrenamtliche Mitarbeiterin im Betreuungsdienst des Deutschen Roten Kreuzes, in der neurologischen Station der Wuppertaler Helios Kliniken. „Es gibt eine Alzheimer-Lüge“ sagt sie in Anspielung auf den gleichnamigen Spiegel-Bestseller von Dr. med. Michael Nehls, der sich auf Aussagen führender Mediziner und Forscher stützt. Ihre persönlichen Erlebnisse und daraus resultierenden Anregungen führen uns zu dieser reflektierenden Buchbesprechung. Die Thesen richten sich zum Teil gegen vorherrschende Meinungen, stellen die Theorie eines zwingenden genetischen Schicksals in Frage und sprechen sogar von einer vermeidbaren Krankheit.

Die Lüge bestehe darin, dass die Krankheit nur zu oft als Begleiterscheinung der steigenden Lebenserwartung dargestellt werde. Dahinter verberge sich ein milliardenschweres Interesse der Pharma-Industrie, die Heilung oder mindestens Besserung verspricht. Nicht aber Medikamente könnten etwas bewirken, sondern nur eine gesunde Lebensführung mit gezielter Vorbeugung, so Annegret Bock. Und in der Tat kommen alle seriösen wissenschaftlichen Forschungen zum gleichen Ergebnis: Die Alzheimer-Krankheit kann derzeit nicht geheilt werden. Die positive Wirkung der derzeit zur Demenzbehandlung zugelassenen Medikamente auf bestehende Symptome ist relativ gering, sie können das Voranschreiten der Erkrankung nicht stoppen. Dennoch bestehe Hoffnung, Einfluss auf die Entwicklung nehmen zu können.

Die größte Schwierigkeit für die Forscher besteht darin, dass die Krankheit schleichend beginnt. Vorsichtigen Schätzungen zufolge beginnt der Alzheimer-Prozess schon 10 bis 15 Jahre vor den ersten klinischen Zeichen, möglicherweise aber auch schon viel früher, insbesondere dann, wenn genetische Defekte die Ursache sind. Am Anfang stehen leichte Störungen der Erinnerungsfähigkeit, die nicht zwangsläufig in eine Alzheimer Erkrankung münden. Allerdings entwickelt sich das Vollbild der Erkrankung (Persönlichkeits-Veränderung, Desinteresse, Verlust der Erinnerung, Pflegebedürftigkeit etc.) in 80 Prozent aller Fälle innerhalb der folgenden sieben Jahre. Derzeit setzt man in der Früherkennung auf sogenannte Biomarker, mit denen Veränderungen in der Rückenmarksflüssigkeit nachgewiesen werden können. Die Hoffnung ist indessen, frühzeitig in den Krankheitsprozess eingreifen zu können, denn sobald die Krankheit ausgebrochen ist, werde sehr wahrscheinlich auch kein Medikament der Zukunft in der Lage sein, den entstandenen Hirnschaden zu reparieren, wie eine große US-Studie belegt. Aber was bedeutet in diesem Falle ‚eingreifen‘? „Man muß seinen Lebensstil grundlegend überdenken“, so Annegret Bock.

Sie sieht es so: Unsere moderne Lebensweise befriedigt immer weniger unsere natürlichen menschlichen Bedürfnisse, unser Organismus leidet unter einer Vielzahl von teils unerkannten Mängeln. Die heute ältesten und gesündesten Menschen leben auf einer weit im Süden Japans gelegenen Inselgruppe namens Okinawa. „Alzheimer“ ist hier ein Fremdwort. Die Wahrscheinlichkeit, den 100. Geburtstag zu erleben, ist hier 34 Mal so groß wie in Deutschland. Fachleute sind davon überzeugt, dass die richtige Balance der sechs essenziellen Bereiche menschlicher Bedürfnisse das Alzheimer Risiko erheblich tangieren: Lebenszweck, Sinn, Umfeld, Bewegung, Ernährung, Zeit und das „Selbst“.

Mit anderen Worten, wer seinen Lebenszweck allein auf Reichtum, Macht und Ruhm ausrichte, wird scheitern. Stichwort: Man lebt nur, um zu arbeiten, satt zu arbeiten um zu leben.
Das Demenzrisiko erhöht sich, wenn wir unsere natürlichen, genetisch bedingten Eigeninteressen völlig den gesellschaftlichen Vorgaben – opfern. Statt Isolation brauchen wir den sozialen Input mit unserem Umfeld. Annegret Bock: „Ich kenne Menschen, die alles verdrängt haben, Probleme nur in sich hineingefressen und sich nur über ihren Beruf und ihrer Aufgabe definiert haben, mit fatalen Ergebnissen.“

Wer sich mehr in seiner Welt bewegt, stimuliert sein Gehirn umso effektiver, je mehr unterschiedliche Erfahrungen er dabei sammelt. Anders gesagt: Neugier zahlt sich aus, und zwar im ‚hippocampalen Hirnwachstum‘, der Region, die als zentrale Schaltstelle des Gedächtnisses gilt. Sie bestimmt darüber, welche Informationen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis überführt werden. Das Sinnproblem schließlich sei ein „Zeitproblem“. Um überhaupt einen Sinn im Leben zu erfahren, benötigen wir Zeit fürs Reflektieren. Für Alzheimer bedeute das, dass die Krankheit sich entwickelt, wenn wir uns keine Zeit für die wesentlichen essentiellen Dinge des Lebens nehmen. Auch bei „Stress“ leide das Erinnerungsvermögen. Ungelöste seelische Probleme bleiben nicht ohne Folgen, das beweist eine große US-Studie. Traumatische Ereignisse, wie etwa der frühe Verlust eines Elternteils, haben einen messbaren Effekt auf die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken. Annegret Bocks Mann war damals Richter im Bartsch-Prozess. „Der Bartsch-Prozess hat meinen damals 32 Jahre alten Mann tiefgreifend beschäftigt und aus meiner Sicht war das der Beginn einer Wesensveränderung. Hier hätten Gespräche sicher etwas gebracht. Aber er war ja auch von Amts wegen an die Schweigepflicht gebunden“, sagt Annegret Bock.

Der Umstand, dass die Alzheimer Erkrankung selten isoliert, sondern meistens mit anderen Kulturkrankheiten auftritt, weist auf gemeinsame Ursachen hin. Selbst der anerkannte Altersforscher Konrad Bayreuther, der Alzheimer als unvermeidbar ansieht: „Risikofaktoren für Herzinfarkte und Hirnschlag sowie Alzheimer Demenz überlappen sich nahezu zu 100 Prozent. Wenn wir etwas gegen Alzheimer tun, dann tun wir auch etwas für unser Herz und schützen uns vor Diabetes“. Dies schließt körperliche Aktivitäten ebenso ein wie die richtige Ernährung. Mit dem Eintritt ins Rentenalter steige die Verlockung zum Nichtstun und münde nicht selten in Passivität und damit in eine aktive Gehirn-Zerstörung. Die Washington Post berichtete von einer Studie über in der Freizeit aktive Senioren, deren Alzheimer Risiko und andere Formen der Demenz sich im Vergleich zu denen auf ein Viertel reduzierte, die ihren Verstand nicht trainierten. Keine Frage: Geistige Aktivität mobilisiert die kognitive Reserve. Annegret Bocks Empfehlung aus eigener Erfahrung ist: „Probleme nicht verdrängen, darüber sprechen, nicht einigeln und einfach mal über den Tellerrand hinausschauen“. Sie selbst pflegt mit ihrem inzwischen in einem Seniorenheim lebenden Ex-Ehemann eine freundschaftliche Beziehung.

Text: Siegfried Jähne

Weiter mit:

Kommentare

Neuen Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert