19. November 2025

Die Dolchstoßlegende: Eine konstruierte Geschichtsfälschung   

Die Dolchstoßlegende - warum haben die Deutschen den Krieg 1918 verloren? Ein Ehrverletzungsprozess zwischen zwei Redakteuren wollte diese Frage 1925 klären. Dieses spannende Geschichts-Ereignis hat Autor Uwe Blass in der lehrreichen Uni-Reihe "Jahr100Wissen" in einem Gespräch mit dem Historiker PD Dr. Arne Karsten thematisiert.

PD Dr. Arne Karsten, Historiker an der Bergischen Universität – © Sebastian Jarych

Warum kam dieser Münchner Dolchstoßprozess, der vom 19. Oktober bis zum 20. November 1925 dauerte, überhaupt zustande?

Arne Karsten: „Weil der Redakteur der sozialdemokratischen „Münchner Post“, Martin Gruber, den Herausgeber der „Süddeutschen Monatshefte“ in München, Paul Nicolaus Cossmann, verklagte, der in einer ganzen Serie von Heften im Sommer 1924 mit Blick auf die Reichstagswahlen systematisch die Geschichtsklitterung betrieb, dass die deutsche Armee 1918 den Krieg verloren habe, nicht, weil sie vom Gegner militärisch besiegt worden sei, sondern, weil eine unheilige Allianz aus Sozialdemokraten, Anarchisten und Juden von innen die Wehrkraft ausgezehrt habe und dadurch die im „Felde“ unbesiegte Truppe durch Verrat und Aktivitäten im Inneren in ihrer Moral zerstört worden sei.“

© Bergische Universität

Was bedeutet der Begriff Dolchstoß in diesem Zusammenhang?

Arne Karsten: „Das ist schlicht der Dolchstoß von hinten, heimtückisch von Verräterhand geführt.“

In diesem Prozess wurden hunderte Zeugen vernommen. Wo kamen die denn überall her?

Arne Karsten: „Die Zeugen kamen, entsprechend der Bedeutung dieser Frage für das Selbstbild der Deutschen, aus allen Bereichen, sowohl des Militärs, der Politik sowie der Wirtschaft. Es ging eben um eine Gesamtbestandsaufnahme, warum der Krieg verloren ging.“

Obwohl die Dolchstoßlegende faktisch widerlegt wurde, erhielt der Redakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung Münchener Post, Martin Gruber (1866 – 1936) dennoch eine Strafe von 3000 Reichsmark. Warum?

Arne Karsten: „Weil es dem Verteidiger des Herrn Cossmann gelang, die Fehldeutung der historischen Ereignisse als Irrglauben, nicht als mutwilligen Vorsatz darzustellen. Das war ein juristischer Schachzug, mit dem diese Wendung dann erzielt wurde.“

Dolchstoßlegende, Wahlplakat der Deutschnationalen Volkspartei – © Deutschnationale Schriftenvertriebsstelle GmbH Berlin (1924) – Deutsches Historisches Museum, Berlin Inv.-Nr.:P 61/1591

Die umstrittene Frage nach den Ursachen der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg ließ sich im Prozess nicht klären, oder?

Arne Karsten: „Ja und nein. Eine so große Frage lässt sich sowieso schwer klären. Auf der anderen Seite war da gar nichts zu klären. Im März 1918, vor der letzten großen deutschen Offensive im Westen, fragte der spätere, kurzfristige Reichskanzler Max von Baden den Kopf der Obersten Heeresleitung Erich Ludendorff: „Was passiert, wenn es schiefgeht?“ Und daraufhin sagte Ludendorff: „Dann muss Deutschland eben zugrunde gehen.“ Den führenden Militärs war im Grunde genommen schon mit dem Scheitern der Frühjahrsoffensive 1918 klar, dass der Krieg verloren ging. Was dann folgte, war eine lange schuldhafte Agonie, weil sich nach einer ganzen Reihe gescheiterter Offensiven der Zusammenbruch anbahnte. Das war die historische Wirklichkeit. Nur, die historische Wahrheit hat es immer schwer, wo politische Interessen ins Spiel kommen. Für die Deutschen war es natürlich angenehmer, die Niederlage zu leugnen. Das Feindbild im Innern „die Linken, die Sozialdemokraten haben uns verraten!“, das ist etwas, was sich als politisches Instrument im Wahlkampf einsetzen ließ.“

Wie wirkte sich denn die Dolchstoßlegende im Dritten Reich dann aus?

Arne Karsten: „Da wurde sie sozusagen zu einem der Grundlagenmythen, dieses ja auf mythischer Geschichtsfälschung beruhenden Systems, eingebaut in eine Weltdeutung, die eben ganz klar aus politischen Überlegungen heraus ein Feindschema stilisierte.“

Heute ist die Bedeutung der Dolchstoßlegende vor allem darin zu sehen, dass sie als Beispiel für die Instrumentalisierung von Verschwörungsmythen zur politischen Destabilisierung dient. Die Behauptungen über Wahlbetrug im Zusammenhang mit der US-Präsidentschaftswahl 2020 könnte man da doch als modernes Beispiel nennen, oder?

Arne Karsten: „Moderne Massengesellschaften kommen generell ganz unabhängig von ihrer Ausrichtung ohne Mythen, mit denen sich Mehrheiten mobilisieren lassen, nicht aus. Das ist eine alte Erkenntnis der Soziologen. Die Gefahr, dass solche Mythen dann wahrheitswidrig instrumentalisiert werden, sind immer und überall gegeben. Daran wird sich auch nie etwas ändern.“

Uwe Blass

PD Dr. Arne Karsten – © Sebastian Jarych

Über PD Dr. Arne Karsten

PD Dr. Arne Karsten (*1969) studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie in Göttingen, Rom und Berlin. Von 2001 bis 2009 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität Berlin. Seit dem Wintersemester 2009 lehrt er als Junior-Professor, seit der Habilitation 2016 als Privatdozent für Geschichte der Neuzeit an der Bergischen Universität.

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