28. Oktober 2025Peter Pionke
Das kurze Leben der Wissenschaftlerin Claire Tisch
Prof. Dr. Hans Frambach, Ökonom an der Bergischen Universität Wuppertal – © Mathias Kehren„Es ist mir eine Hoffnung für die Zukunft, in die ich jetzt gehe, zu wissen, dass ich, wenn einmal wieder Hilfe möglich ist, ich auf Ihre Hilfe rechnen kann“, schrieb die Elberfelder Wirtschaftswissenschaftlerin Cläre Tisch an ihren hochgeschätzten Doktorvater Joseph A. Schumpeter, sieben Tage vor ihrer Ermordung durch die Nationalsozilisten. Der Wuppertaler Volkswirt Hans Frambach hat sich mit dem beeindruckenden Lebenslauf der 1941 getöteten Wissenschaftlerin beschäftigt, deren Arbeiten bis heute nachwirken.
Das kurze Leben der Cläre Tisch
„Dr. Cläre Tisch war eine bemerkenswerte Frau, die für ihre Überzeugungen eingetreten ist“, erklärt Frambach zu Beginn und beschreibt den Werdegang einer jungen Wissenschaftlerin, der durch das Regime der Nationalsozialisten jäh endete. „Sie wurde am 14.1.1907 in Elberfeld geboren, verbrachte dort ihre Kinder- und Schulzeit und legte 1926 die Abiturprüfung ab. Im Sommer 1929 schloss sie das Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn ab, besuchte danach noch weitere Veranstaltungen, insbesondere bei Joseph A. Schumpeter (Schumpeter ist der Namensgeber der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der Bergischen Universität, Anm. d. Red.), der ihr auch zu einer Promotion zum Thema ‚Wirtschaftsrechnung und Verteilung im zentralistisch organisierten sozialistischen Gemeinwesen‘ riet.“
© Bergische UniversitätDiese Promotion schloss Tisch in Rekordzeit bereits Ende Juli 1931 ab. Bis 1933 war sie noch weiter an der Universität Bonn beschäftigt, musste diese als Jüdin jedoch dann auf Druck der Nazis verlassen. „Bis 1936“, berichtet Frambach, „ging sie verschiedenen Tätigkeiten nach, bevor sie eine Anstellung in der Zentrale für Jüdische Pflegestellen und Adoptionsvermittlung, Kinder- und Jugendschutz des Jüdischen Frauenverbands e.V., Wuppertal-Elberfeld erhielt, die sie bis zu ihrer Deportation aus Wuppertal mit hohem Engagement und viel Herzblut ausübte.
Am 10.11.1941 wurde Cläre Tisch, gemeinsam mit ihren beiden Schwestern, Schwager und Nichte, von Elberfeld nach Minsk deportiert. Die Fahrt dauerte drei Tage. Aller Wahrscheinlichkeit wurde sie am 15.11.1941 ermordet.“
Namenszusatz der Fakultät führt zur Beschäftigung mit Cläre Tisch
Weil die Fakultät für Wirtschaftswissenschaft die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf die Themenbereiche Innovation, dynamisches Unternehmertum, Entrepreneurship sowie strukturelle und zyklische Wirtschaftsentwicklung legte, erzählt der Forscher, fand im Oktober 2008 an der Bergischen Universität eine Erweiterung des damaligen Fachbereichsnamens ‚Wirtschaftswissenschaft‘ um den Zusatz ´Schumpeter School of Business and Economics` statt. „Dem ging eine intensive und fächerübergreifende Beschäftigung mit der Person Joseph A. Schumpeters voraus, die auch die Suche nach Verbindungen von Schumpeter mit Wuppertal einschloss.“
Zwar konnte man die Nähe Schumpeters zu Wuppertal nicht eindeutig definieren, stieß bei der Recherche doch immer wieder auf zwei ökonomische Persönlichkeiten: Cläre Tisch und Hans Singer (in Wuppertal geborener Entwicklungsökonom. Nach ihm wurde 2024 der Hans-Singer-Weg in Wuppertal Elberfeld benannt, Anm. d. Red.).
„Von hier aus war der Weg einer weiteren Auseinandersetzung mit beiden Größen nicht mehr weit“ fährt Frambach fort. „Sehr intensiv mit Cläre Tisch beschäftigte ich mich ab 2011, als mich der Wuppertaler Unternehmer Ralf Putsch für ein gemeinsames Projekt mit Dr. Ulrike Schrader, der Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal, bat, den Briefverkehr von Tisch und Schumpeter aus den Harvard University Archives zu erschließen.“
Die wortgetreuen Mitschriften einer Ausnahmewissenschaftlerin
Joseph A. Schumpeter hatte 1925 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn den Lehrstuhl für wirtschaftliche Staatswissenschaft übernommen. „Den hatte er bis 1932 inne, bevor er an die Harvard University wechselte.“ Nach einigen Umwegen immatrikulierte sich Tisch 1928 für das Studium der Volkswirtschaftslehre in Bonn und legte bereits am 10.7.1929 die ´Diplomprüfung für Volkswirte` ab“, sagt Frambach. Schon zwei Jahre später promovierte sie bei Schumpeter.
Gedenktafel Cläre Tisch an der alten Synagoge – © CC0„Cläre Tisch bewunderte Schumpeter, machte wortgetreue Mitschriften seiner Vorlesungen und Seminare und zählte mit Kommilitonen wie August Lösch, Hans W. Singer, Wolfgang F. Stolper und Herbert Zassenhaus gewiss zum ´inner circle` der Studierenden von Schumpeter. Aus ihrem Briefverkehr geht hervor, dass ihre Mitschriften wirklich fabelhaft waren und sie verkaufte die auch für gutes Geld an ihre Kommilitonen“, schmunzelt der Fachmann.
Sie habe es in der Zeit sehr gut verstanden, sich durchzusetzen. Man habe nicht den Eindruck, dass Cläre Tisch in dieser Männergesellschaft Probleme hatte. „Die wirklichen Probleme entstanden mit dem Nationalsozialismus und zwar unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 und in einer Weise, gegen die sich ein Mensch nicht wehren konnte.“
Tischs Promotionsarbeit – das Beste, was bisher dazu geleistet wurde
Cläre Tisch promovierte 1931 mit dem Thema ‚Wirtschaftsrechnung und Verteilung im zentralistisch organisierten sozialistischen Gemeinwesen‘. In ökonomischen Kreisen gilt Ihre Arbeit als sehr bemerkenswert. Frambach erklärt, warum das so war und sagt: „In den 1910er und 1920er Jahren gab es eine lebhafte Debatte über die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in einem sozialistischen versus kapitalistischen System, die in der Wirtschaftstheorie durch einen Aufsatz des italienischen Ökonomen Enrico Barone im Jahr 1908 eingeleitet wurde. Barone hatte mathematisch die Identität eines allgemeinen Gleichgewichts in einem zentralistischen System und eines unter reinen Konkurrenzbedingungen gezeigt.“
Er glaubte, aufgrund mathematischer Berechnungen die gleichen Ergebnisse in einem sozialistischen System erreichen zu können. „Aber vor dem Hintergrund bedeutender historischer Ereignisse wie der russischen Oktoberrevolution 1917 und den ungeheuren Problemen, die im Zuge des Ersten Weltkriegs entstanden waren, nahm die Polarisierung zwischen den Positionen zu und erreichte einen Höhepunkt in der vollständigen Ablehnung eines sozialistischen Systems“, erklärt Frambach.
„Genau in dieser sogenannten socialist calculation debate ist Cläre Tischs Dissertation zu verorten, denn sie untersuchte, ob die sozialistische Wirtschaft überhaupt als Wirtschaft im Sinne der rationalen Abwägung von Aufwand und Ertrag angesehen werden kann.“ Sie zeige in ihrer Arbeit eindrucksvoll, dass unabhängig von der Frage nach zentraler Planung oder freier Konkurrenz die Bestimmung von Gleichgewichtspreisen zumindest theoretisch möglich seien, wenn der Allokationsmechanismus (Zuordnung beschränkter Ressourcen, Anm. d. Red.) strikt nach dem Prinzip der Knappheit ablaufe. „Wichtig ist zu betonen, dass eine ’sozialistische Lösung‘ lediglich formal aufgezeigt wird und Cläre Tisch in weiten Teilen ihrer Arbeit tiefgehende Kritik an sozialistischen Ansätzen übt.“
Schumpeter selber war von Tischs Arbeit jedenfalls überzeugt und schrieb in seinem Gutachten der Arbeit vom ’sicherlich Besten, was innerhalb dieses Problemkreises bisher geleistet wurde.‘ Oftmals wird Cläre Tisch gerne als Sozialistin interpretiert, doch da stimmt der Volkswirt nicht zu und sagt: „Zwar anerkannte Cläre Tisch, und zwar ähnlich wie Schumpeter, die großen humanitären Zielsetzungen des Sozialismus von Gleichheit und Freiheit von Not und die sich daraus ergebenden Ansatzpunkte einer Kritik des Kapitalismus, doch bin ich, auch in der Betrachtung ihres wissenschaftlichen Œuvres, fest davon überzeugt, dass man sie vielmehr als eine Marktökonomin in der Tradition der österreichischen Schule stehend, wie sie von Schumpeter vertreten wurde, deuten muss.“
Stolperstein Cläre Tisch – © CC BY-SA 3.01933 – 1941 Tisch hält sich mit anderen Jobs über Wasser
Unabhängig von ihrem großen wissenschaftlichen Talent – sie forschte über Kartellfragen und schrieb zwei Bücher, die in der sehr prominenten Reihe Industriewirtschaftliche Untersuchungen in den Jahren 1933 bzw. 1934 veröffentlicht wurden – musste Tisch die Hochschule 1933 verlassen. „Cläre Tisch war seit der Machtübernahme durch die Nazis verschiedensten Repressionen ausgesetzt, die sich natürlich nicht nur auf die berufliche Tätigkeit beschränkten. Ihre Veranstaltungen wurden boykottiert, kaum jemand traute sich mehr, einer Jüdin zuzuhören. Selbst eine zeitweise Beschäftigung als Repetitorin konnte nicht aufrechterhalten werden.“
Tisch zog wieder zu ihrer Familie nach Wuppertal, unternahm ein paar Reisen und bestritt ihren Lebensunterhalt mit verschiedenen Tätigkeiten. Dazu Frambach: „Sie arbeitete als Stenotypistin in Köln und als Kontoristin in einem Solinger Schuhgeschäft. Eine längerfristige Anstellung hatte sie in der Zeit von 1936 bis 1941.
Bei der Zentralstelle für jüdisches Pflegestellenwesen und Adoptionsvermittlung in Wuppertal-Elberfeld, einer Einrichtung des Jüdischen Frauenbundes, hatte sie die Position einer ‚Sekretärin‘ inne und war in erster Linie mit der Organisation und Vermittlung von Pflege- und Adoptionsstellen für jüdische Kinder, insbesondere in Zeiten der zunehmenden Verfolgung, betraut. Die Gründerin der Adoptionszentrale und Wegbereiterin jüdischer Sozialarbeit war Clara Samuel (Samuel war die Gründerin der Elberfelder Ortsgruppe des Jüdischen Frauenbunds, Anm. d. Red.), mit ihr arbeitete Cläre Tisch eng zusammen.“
Briefe zwischen Schumpeter und Tisch verdeutlichen die ausweglose Lage
„Aus den Jahren von 1933 bis 1941 sind Briefe zwischen Cläre Tisch und Joseph Schumpeter erhalten“, sagt Frambach. Und bereits in der Korrespondenz aus dem Jahr 1933 gehe die, durch die Nazis entstandene, bedrückende Situation für das jüdische Leben in Deutschland in aller Deutlichkeit hervor. „1938 hatte Cläre Tisch einen Ausreiseantrag für die Vereinigten Staaten im amerikanischen Konsulat in Stuttgart gestellt, deren Realisierung sie selber jedoch aufgrund der bis zu fünf Jahre andauernden Wartezeiten als unrealistisch bewertete.“
Schumpeter selber hatte 1938/39 Cläre Tisch eine Bürgschaftserklärung (Affidavit) für die Ausreise in die USA ausgestellt, die er noch 1941 wiederholte. Die tatsächlichen Ausreisebedingungen waren jedoch bereits dermaßen eingeschränkt, dass eine Umsetzung faktisch nicht möglich war.
„Im Oktober 1941 begann die Deportation von 53.000 Juden aus dem Reich in die Ghettos der Städte Lodz, Minsk, Kowno und Riga in den besetzten osteuropäischen Staaten. Am 8.11.1941, zwei Tage vor der Deportation von Familie Tisch, schrieb Cläre Tisch noch an Schumpeter von der Sinnlosigkeit von Ausreisebemühungen und einer hoffnungsvollen Bitte. Darin heißt es: „[…] ich ließ so lange nichts von mir hören, weil die veränderte Einwanderungssituation irgendwelche Schritte und Bemühungen sinnlos machte, und weil ich Sie nicht unnütz bemühen und belästigen wollte. Weiß ich doch, wie sehr knapp ihre Zeit ist! Auch heute möchte ich Sie – die Situation ist ja unverändert – nur um Folgendes bitten: Erhalten Sie mir Ihr Wohlwollen und Ihre Hilfsbereitschaft, falls einmal in späteren Zeiten irgendeine Hilfe möglich sein wird – und tun Sie nichts für mich, bevor ich Ihnen deswegen schreibe und Sie darum bitte. Ich gehe übermorgen aus Wuppertal fort und weiß auch noch nicht, wie meine neue Adresse sein wird, weiß auch nicht, ob ich sie Ihnen sobald mitzuteilen Gelegenheit haben werde. Es ist mir eine Hoffnung für die Zukunft, in die ich jetzt gehe, zu wissen, dass ich, wenn einmal wieder Hilfe möglich ist, ich auf Ihre Hilfe rechnen kann.“
Menschen von heute können kaum ermessen, was in den Köpfen der Opfer damals vorging. „Es gibt ja Untersuchungen, was psychologisch in den Menschen vorgegangen sein muss und das ist mehr als bedrückend“, sagt Frambach. „Ich habe im Zuge meiner Recherchen für einen Aufsatz, der demnächst erscheinen wird, viel recherchiert. Und wenn man die Berichte über diese Abtransporte liest, mit welcher Mechanik da Menschen verarbeitet wurden, wie Vieh organisiert und verladen, da kann einem nur schlecht werden. Da ging man mit absoluter Menschenverachtung zu Werke.“
Cläre Tisch in Liste der Frauenorte NRW aufgenommen
Stolpersteine sind kleine Gedenktafeln aus Messing, die an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors erinnern. Die Stolpersteine von Cläre Tisch und ihrer Familie – das sind die ältere Schwester Marie, die jüngere, gehörlose Schwester Gerda, der Ehemann von Marie, Leo Marcus, und deren Tochter Arnhild Adele – wurden 2008 in der Neumarktstraße 8 (ehemals Hermann-Göring-Straße 46, davor Walther-Rathenau-Straße 46) in Wuppertal Elberfeld eingelassen.
Frambach weiß:.„Es war der Wohnort, an dem Cläre Tisch seit Verlassen ihrer Wohnung in Bonn mit ihren Angehörigen lebte. Im Anschluss an das ´Gesetz über die Mietverhältnisse der Juden` vom 30.4.1939 war Familie Tisch gezwungen, ihre Wohnung aufzugeben und in eines der sogenannten Judenhäuser in der Distelbeck 21 in Wuppertal-Elberfeld umzuziehen. Dort lebten sie bis zur ihrer Deportation nach Minsk am 10.11.1941.“
2024 erhielt Cläre Tisch im Rahmen des Projektes Frauenorte eine Gedenktafel an der Alten Synagoge in Wuppertal. „In der Feierstunde am 9. Juni 2024 wurde Dr. Cläre Tisch als erste Frau in Wuppertal mit einem offiziellen FrauenOrt NRW geehrt und als jüdische Wirtschaftswissenschaftlerin und engagierte Sozialarbeiterin im Jüdischen Frauenbund gewürdigt“, sagt Frambach abschließend. „Diese Form der Erinnerung ist ein Zeichen des Respekts, vor allem aber auch ein Aufruf, das Engagement mutiger Frauen wie Cläre Tisch nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Auf der Gedenktafel stehen die Worte: ‚Ihr Leben steht für wissenschaftliche Exzellenz, soziale Verantwortung und den Verlust durch nationalsozialistische Verfolgung. ‚ Treffender kann der schicksalhafte Verlauf des Lebens von Cläre Tisch in wenigen Worten wohl kaum zusammengefasst werden.“
Uwe Blass
Prof. Dr. Hans Frambach – © Mathias KehrenÜber Prof. Hans Frambach
Prof. Dr. Hans Frambach leitet den Arbeitsbereich Mikroökonomie und Geschichte des ökonomischen Denkens in der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, Schumpeter School of Business and Economics der Bergischen Universität.
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