20. Januar 2020

WDR

Jochen Rausch: Musik und Schreiben als Droge

Der Programmdirektor von 1LIVE, WDR 2 und WDR 4 hat viele Talente. Er ist auch als Buchautor und Musiker er erfolgreich. Das Leben rauscht nicht nur so einfach an ihm vorbei! Im Gegenteil. Jochen Rausch schöpft jede Minute förmlich aus, ist neugierig, ehrgeizig und kreativ. Der Programm-Chef von 1Live, WDR 2 und WDR 4 sowie stellv. WDR-Hörfunkdirektor besitzt auch mit 63 Jahren noch eine jugendliche Ausstrahlung und schmiedet in seinem Alter mehr Zukunftspläne als viele 20jährige.

Jochen Rausch, Programm-Direktor 1LIVE, WDR 2, WDR 4, Moderator, Musiker, Buchautor – © Pieper

Eigentlich müsste Jochen Rausch irgendwann gleich dreifach „Rente“ beantragen: Als Rundfunk-Journalist, als Musiker und als Schriftsteller.

Einen wahren Ritterschlag erhielt Jochen Rausch als Buchautor. Der Film „Fremder Feind“, der auf seinem Roman „Krieg“ basiert, wurde mit dem Deutschen Fernsehfilmpreis 2018 ausgezeichnet. Der Roman „Krieg“ wurde 2013 vom Berlin Verlag veröffentlicht. 

Am 21.02.2018 wurde das Drama unter dem Titel „Fremder Feind“ in der ARD-Reihe „FilmMittwoch im Ersten“ ausgestrahlt. 4,24 Millionen Zuschauer fieberten vor dem Fernseher mit. Regie führte Rick Ostermann, das Drehbuch schrieb Hannah Hollinger und die Hauptrollen spielten Ulrich Matthes („Der Untergang“ – „Bornholmer Straße“) und Barbara Auer („Schiller“ – „Effi Briest“). Lesen Sie hier das umfassende Interview mit einem der erfolgreichsten Multitalenten in der deutschen Medien-Landschaft.

DS: Welche Bedeutung hat für Sie die Zahl 60?

Jochen Rausch: „Ich hatte gehofft, dass Sie mich nicht auf mein Alter ansprechen würden. Ehrlich gesagt, empfinde ich 60 Jahre schon als erschreckend. Aber das habe ich bei meinem 50. Geburtstag auch schon gedacht. Ich habe mich mein ganzes Leben lang damit beschäftigt, wie man junge Menschen erreicht, was machen junge Menschen, welche Musik hören sie, welche Bücher lesen sie? Man hat ja immer so ein gefühltes Alter, das liegt bei mir um die 40. Aber egal, wie alt man sich fühlt: der Körper vergisst nicht einen Tag.“

DS: Bei Wikipedia ist über Sie aufgelistet: Musiker – Journalist – Schriftsteller. Wenn Sie sich für eine Berufsbezeichnung entscheiden müssten, welche würden Sie wählen?

Jochen Rausch: „Ich sehe mich als Kommunikations-Menschen. Als Kind wollte ich Priester werden. Ich habe damals bei uns im Flur Messen gelesen und Predigten gehalten, der Altar war der Schuhschrank. Das hätte ich niemals meinen Freunden verraten. Ich habe ganz früh Geschichten geschrieben und Zeitungen gemacht, Auflage 1 Exemplar, die habe ich ja mit der Hand geschrieben.“

Jochen Rausch (r.) mit Rock-Star Herbert Grönemeyer bei der Verleihung 1Live Krone 2014 –
© WDR/Annika Fußwinkel

DS: Da brach der Reporter in Ihnen aber schon ganz früh durch?

Jochen Rausch: „Medien haben mich immer fasziniert. Ich hatte anscheinend immer das Bedürfnis, mich irgendwie mitzuteilen. Ich habe mit 18 Jahren als freier Mitarbeiter bei der NRZ angefangen, einer Lokalzeitung, die es damals noch in Wuppertal gab. Ich habe nie darauf geguckt, wie viel Geld man da bekommt. Ich hatte am Anfang noch nicht einmal ein Auto. Ich bin dann mit dem Bus zu Terminen nach Ronsdorf oder Vohwinkel gefahren, das war alles umständlich, aber das war mein Ding, in der Zeitung zu schreiben.“

DS: Aber Sie haben ja zuerst einen ganz normalen Beruf erlernt, wie kam es denn dazu?

Jochen Rausch: „Ich hatte eine verkrachte Schulzeit. Ich war auf der Hauptschule am Röttgen. War auch mal auf dem Gymnasium Aue, aber die waren da ein bisschen unlocker. Die Hauptschule hat meiner Sozialisation sehr gut getan, da konnte man nicht abheben und sich für was Besseres halten. Außerdem waren da auch Mädchen und die Aue war ein Knabengymnasium. Ich habe dann später nach der Höheren Handelsschule eine Ausbildung bei der AOK gemacht. Aber Verwaltung war nicht so meine Sache: Wenn jemand in die Geschäftsstelle kam, den ich kannte, bin ich auf der Toilette verschwunden, AOK war ja ziemlich uncool. Aber ich brauchte das Geld, ich hatte eine Band und brauchte Kohle für Instrumente. Als das zu Ende war, habe ich in der börse meinen Zivildienst geleistet und danach studiert.“

DS: Es war doch sicher mental nicht einfach, alles hinzuwerfen und einen ganz neuen Anfang zu starten?

Jochen Rausch: „Ich hatte ja damals schon eine Band und meinen Nebenjob bei der Zeitung. Da kam ich mit der AOK irgendwie klar. Ich durfte aber nicht unter meinem Namen schreiben, weil ich noch in der Ausbildung war. Also war ich ein Pseudonym. Ich hieß in der Zeitung Jora.“

DS: Sie fahren immer noch dreigleisig. Woher nehmen Sie die Energie?

Jochen Rausch: „Ich habe bei der AOK kapiert, dass ich für eine ungeliebte Arbeit mehr Energie aufwenden muss als für etwas, was ich gerne tue. Schreiben, Radio, Fernsehen, das habe ich nie als lästige Arbeit empfunden, das war und ist super. Ein Job, den viele gerne machen würden, und ich bin dankbar, dass ich das machen durfte beim WDR. Auch wenn es am Ende etwas anderes wurde, als ich anfangs dachte – ich wollte ins Investigative, zum Stern, Spiegel, Monitor oder Auslandskorrespondent. Von dem Weg bin ich ja etwas abgekommen, aber es wurde trotzdem gut.“

DS: Sie haben einmal gesagt: „Eigentlich wollte ich Rockstar werden“. Warum haben Sie als taffer, erfolgsverwöhnter Macher ausgerechnet dieses Ziel nicht erreicht?

Jochen Rausch: „Wir hatten mit unserer Band „Die Helden“ durchaus Erfolg. Und als ich in den 80er Jahren mit meinem Freund Detlev Cremer „Stahlnetz“ gründete, bekamen wir einen ziemlich guten Plattenvertrag und haben damals mit Conny Plank, einem der angesagtesten Produzenten, der Bands wie Kraftwerk, DAF, Ideal oder sogar die Eurythmics groß gemacht hat, zusammen gearbeitet. Wir haben mit ihm eine Platte gemacht. Aber wir waren einfach schon zu spät, da fing nämlich die lustige Zeit der „Neuen Deutschen Welle“ an, unsere Musik war eher wuppertalerisch verregnet.“

DS: Also haben Sie was die Musik angeht die Flinte ins Korn geworfen?

Jochen Rausch: „Auf keinen Fall. Ich habe wirklich alles versucht. Ich bin mit unserem Album auf Promotion-Reise gegangen. Beim WDR hat mir Star-Diskjockey Mal Sondock erklärt, er spielt unsere Platte nicht, weil sich die WDR-Hörer dann aus dem Fenster stürzen. Das hört man gerne als Musiker. Aber ich habe als Musiker auch nie alles auf eine Karte gesetzt, vielleicht, weil ich Autodidakt war und mir nicht vorstellen konnte, mich irgendwie als Berufsmusiker durchzuschlagen. Und als Taxifahrer wollte ich auch nicht enden.“

DS: Ihre erste Band hieß „Die Helden“. Wer ist heute für Sie ein Held?

Jochen Rausch: „Unser Band-Name „Die Helden“ war ja ironisch gemeint und von Bowie inspiriert. ‚Dann sind wir Helden, für einen Tag‘. Helden sind für mich Leute, die sich selbst nicht als Helden bezeichnen würden: Leute, die gerade durchs Leben gehen und nicht bei Gegenwind ihre Meinung wechseln, aber auch in der Lage sind, ein Argument anzunehmen. Also Leute mit Rückgrat und keine Weicheier.“

DS: Ist Ihre Schriftstellerei für Sie schon so eine Art Testlauf für Ihre spätere Haupt-Beschäftigung nach der Pensionierung als Rundfunk-Programm-Chef?

Jochen Rausch: „Seit ich schreiben kann, habe ich geschrieben. Ich habe mindestens fünf fertige Romane da liegen aus den letzten 30 Jahren. Was ich als Rentner mache, weiß ich nicht. Ich weiß nur, was ich nicht machen werde: Mit meiner Frau einkaufen gehen und mich streiten, ob wir fünf oder nur vier Apfelsinen kaufen sollen. Ich werde irgendwas Kreatives machen. Ich habe neulich im Spiegel eine Story über eine Schriftstellerin gelesen, die als „Entdeckung der Saison“ bezeichnet wurde: die Frau ist 87. Das macht mir Mut.“

DS: Gibt es so etwas wie ein Bindeglied zwischen Ihren Leidenschaften Musiker/Journalist/Schriftsteller?

Jochen Rausch: „Es ist doch eigentlich immer dasselbe: Man sieht oder fühlt etwas und versucht, es zu beschreiben. In meinem Roman „Krieg“ geht es um einen Vater, dessen Sohn in Afghanistan gefallen ist. Das ist für jeden, der Kinder hat, ein Albtraum, also auch für mich. Darüber kann man eine Reportage schreiben oder auch einen Roman, man könnte auch einen Song machen oder ein Bild malen. Und vielleicht ist es auch ein wenig so, sich die Dämonen vom Leib zu schreiben.“

DS: 1LIVE ist Ihr Baby. Dieses Baby ist mittlerweile ein Teenager in der Pubertät. Wie hat sich Ihr Baby seither verändert?

Jochen Rausch: „Wir, die Medienmacher, verändern die Gesellschaft ständig. Das bedeutet aber auch, dass auch wir uns verändern müssen, sonst ist man irgendwann aus dem Spiel. Es gibt heute total andere Einflüsse und veränderte Hörgewohnheiten. Die Jugend ist nicht desinteressiert, aber vielleicht manchmal überfordert von dem, was auf sie einprasselt übers Internet, Fernsehen, Radio, digitale Spiele und so weiter. Gar nicht so leicht, Qualität ans Publikum zu bringen, weil es schwer ist, Schund von guten Sachen zu unterscheiden.“

DS: Könnten Sie 1LIVE heute noch erfolgreich führen, wenn Ihnen die Natur nicht diese ewige Jugendlichkeit, diese Neugier mit auf den Weg gegeben hätte?

Jochen Rausch: „Na ja, ich mache das ja nicht allein. Da sind viele junge Leute bei 1LIVE. Ich versuche, Anstöße zu geben und vielleicht kommt etwas anderes dabei heraus, als mir vorschwebte. Hauptsache, es bewegt sich. Ich gucke nicht so gerne in den Rückspiegel, dass früher alles besser war und aus Holz: Ich gucke lieber nach vorn, was man noch so alles machen könnte.“

Jochen Rausch – ©WDR/ Ludolf Dahmen

DS: Nach welchen Kriterien wählen Sie Ihre Moderatorinnen und Moderatoren aus?

Jochen Rausch: „Das machen wir im Team. Das ist ein hartes Programm für die Bewerber und geht über mehrere Probesendungen. Und selbst, wenn diese Hürden genommen wurden, ist das noch keine Garantie. Das ist wie beim Fußball: Man kauft einen neuen Spieler, weil man glaubt, er ist die ideale Verstärkung und dann schafft er doch nicht den Durchbruch. Dann muss man sich wieder trennen. Das ist hart, ich weiß. Aber der Druck ist auch enorm. Da hören dir 1,5 Millionen Zuhörer zu, die einen unruhigen Finger haben und schnell umschalten, wenn ihnen der Sender nicht passt. Man muss auch mit dem Druck umgehen können, das ist gar nicht so einfach.“

DS: Sie sind ja inzwischen auch Programmchef von WDR 2 und WDR 4. Ist das für Sie die Brücke zwischen Jugendlichkeit und Erwachsensein?

Jochen Rausch (lacht): „Ich bin jetzt bei WDR 4 eigentlich altersmäßig da angekommen, wo ich hingehöre. Da ich mich immer für Musik interessiert habe, sind mir die Songs bei allen drei Sendern ziemlich vertraut.“

DS: Können Sie sich vorstellen, irgendwann einmal die Verantwortung für 1LIVE abzugeben, um sich nur noch auf WDR 2 und WDR 4 zu konzentrieren?

Jochen Rausch: „Die Funktion, die ich jetzt habe, hat eigentlich mit meinem Alter nichts zu tun. Bei 1LIVE arbeiten ca. 100 Leute und die sind alle jünger als ich. Die Jüngsten sind um die 20. Also sehe ich nicht die Gefahr, dass der Sender vergreist, nur weil das Management von jemanden gemacht wird, der älter ist. Außerdem bin ich immer noch sehr interessiert, was in den neuen Medien passiert: 1LIVE ist für einen Radiosender ziemlich weit vorne in der digitalen Welt und für viele ein Vorbild. Kann man von vielen anderen klassischen Medien nicht gerade behaupten.“

DS: Und haben Sie da den Stein der Weisen gefunden?

Jochen Rausch: „Das ist sicher nicht leicht. Aber es ist ja nun einmal mein Job, strategische Lösungen zu finden: Wir wollen eine gewichtige Stimme bleiben und nicht irgendwann so eine digitale Volkshochschule werden und nur kleine Randbereiche abdecken. Wir sollten als WDR auch daran arbeiten, dass unsere Stimme in der gesellschaftspolitischen Kommunikation nicht zu leise wird. Wir stehen für Demokratie und Toleranz. Und was teilweise im Netz abläuft, ist das Gegenteil davon: Demagogie und üble Nachrede. Das ist für alle Demokraten eine große Herausforderung, vor allem, weil die Konsumenten der Medien nur schwer seriöse Informationen von demagogischer Meinungsmache unterscheiden können.“

DS: Als junger Zeitungsbote sind Sie zu der Überzeugung gelangt, dass sich Medien verjüngen und verändern müssen. Wie setzen Sie diese Erkenntnis bei 1LIVE um?

Jochen Rausch: „Ich habe meine Medienkarriere als Bote beim Wuppertaler Stadtanzeiger, einer Abonnements-Wochenzeitung, begonnen. Ich musste am Monatsende kassieren und jedes Mal waren ein oder zwei Abonnenten verstorben. Ich habe meinen Chef angesprochen und ihm angeboten, ich könnte doch ein paar Artikel über Rockmusik schreiben und wir hätten wieder junge Leser. Der Meister hat gelacht und gesagt, ich solle mal abzischen. Ist schon kurios, dass es dann beim WDR genau meine Aufgabe wurde, junge Leute für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu gewinnen. Die Wochenzeitung war übrigens dann wenig später pleite und der WDR hat jetzt den größten jungen Radiosender in Europa, weil wir verstanden haben, dass wir uns engagieren müssen und auch in die Jungen investieren müssen.“

DS: Viele Jugendliche flüchten sich in eine virtuelle PC-Scheinwelt und bekommen gar nicht mehr mit, was um sie herum geschieht. Wie kämpfen Sie um diese potentiellen Hörer?

Jochen Rausch: „Man muss sie dort abholen, wo sie sind. Die Zeiten sind lange vorbei, in denen man sagen konnte: Die Leute werde uns schon einschalten. Radio ist ein Event. Radio schafft Ereignisse. Wir müssen in den sozialen Netzwerken unterwegs sein. Wir haben sogar mal darüber nachgedacht, 1LIVE-Cafés aufzumachen, das passt aber nicht so gut zum öffentlich-rechtlichen Status. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns halten werden, wenn die Menschen spüren, dass sie von uns profitieren: dass sie nicht belogen werden, dass sie inspiriert werden, dass sie unterhalten werden.“

DS: Viele werfen der heutigen Jugend politisches Desinteresse vor. Deckt sich das mit Ihrer Wahrnehmung?

Jochen Rausch: „Ich würde das nie pauschalisieren. Es gab zu jeder Zeit Leute, die sich für nichts interessiert und einfach in den Tag hinein gelebt haben. Ich kenne junge Leute, die politisch sehr interessiert sind. Es ist nicht leicht, den Kindern zu vermitteln, dass sie irgendwann ihr Leben selbst in die Hand nehmen müssen. Dass da nicht immer einer ist, der für sie die Probleme beseitigt. Das ist nicht leicht, in einer Zeit, in der wir unsere Kinder unheimlich verwöhnen. Es gibt diese Riesen-Babys, die über 20 Jahre alt sind und eigentlich keinen Plan haben, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Wir erleben aber gerade nicht nur in Deutschland, dass sich gesellschaftspolitisch etwas drastisch verändert, dass eine große Anspannung entstanden ist und auch wir Älteren spüren, dass der Frieden, den wir zum Glück seit über 70 Jahren in Deutschland haben, keine Selbstverständlichkeit ist, sondern dass jeder an seinem Platz etwas dafür tun kann.“

DS: Dem Fernsehen laufen scharenweise die jungen Zuschauer weg. Sehen Sie für Ihren Bereich auch schwarz?

Jochen Rausch: „Bei uns hat sich zum Glück bislang nur die Hördauer verändert. Früher haben die Leute im Schnitt drei Stunden am Tag Radio gehört, heute etwas kürzer. Die jungen Leute schauen auch heute noch Fernsehen. Aber der klassische junge TV-Zuschauer sitzt auf dem Sofa, hat den Fernseher laufen, auf seinen Knien liegt ein Tablet PC zum Spielen und neben ihm das Smartphone für die Kommunikation. Das ist eine Form der Mediennutzung, die vielen Erwachsenen noch fremd ist.“

DS: Aber können sich die Erwachsenen dieser Medienwelt überhaupt noch verweigern?

Jochen Rausch: „Können wir nicht. Ich ertappe mich selbst dabei. Sobald ich z.B. auf dem Bahnsteig zum Stehen komme, ziehe ich mein Smartphone aus der Tasche und schaue nach, ob eine Whatsapp-Nachricht oder E-Mail angekommen ist. Das machen ja fast alle und es hat uns schon sehr verändert. Ich meine nicht nur die Wahnsinnigen, die während des Autofahrens Nachrichten schreiben und dann andere Leute totfahren. Wir erleben die Wirklichkeit heute anders: wir sind bei einem Konzert und machen Fotos mit dem Handy und posten sie bei Facebook, dass alle wissen, wir sind bei einem Konzert – hören aber gar nicht zu, weil wir ja posten und fotografieren. Keine Ahnung, wie sich das entwickelt, aber es fühlt sich irgendwie blöd an.“

DS: Auch wenn Sie kein Hellseher sind: Wie stellen Sie sich 1Live in 25 Jahren vor?

Jochen Rausch: „Ehrlich gesagt kann ich mir gar nicht vorstellen, dass 1Live in 25 Jahren noch in der Form existiert, wie wir es jetzt kennen. Seriös kann man heute vielleicht die Entwicklung in den nächsten vier oder fünf Jahren voraussagen. Wenn uns jemand vor 25 Jahren gesagt hätte: Es gibt einmal so ein Gerät, das so groß wie eine Zigarettenschachtel ist, und mit dem Ding kannst du telefonieren, Nachrichten versenden, Überweisungen tätigen, eine Reise buchen, einen Lebenspartner suchen und ein Auto kaufen, den hätten wir die doch für verrückt erklärt. Wir können als Medium nur schauen, wo vorne ist und dann müssen wir gucken, wo unser Platz dabei ist.“

DS: Sie haben früher Rock-Konzert-Kritiken im Auto auf einer Reiseschreibmaschine auf den Knien getippt. Gibt es heute diesen Ehrgeiz und Pioniergeist auch noch?

Jochen Rausch: „Ich kenne viele Leute bei 1LIVE, die die ganze Nacht über an einer Story arbeiten, um sie am nächsten Morgen senden zu können. Der Job heute ist sogar noch härter geworden. Ich hatte früher als junger TV-Reporter viel mehr Zeit für die Produktion eines Fernsehbeitrages. Heute stehen die Kollegen permanent unter Zeitdruck. Durch die sozialen Netzwerke ist ein enormes Tempo in den Nachrichtenfluss gekommen. Man kann nicht mehr fünf Stunden lang sorgfältig recherchieren, bevor man auf Sendung geht. Dann sagen die Leute: ‚Das kennen wir doch alles schon‘. Das größte Problem heute ist doch: Wie schaffen wir es trotz des wahnsinnigen Tempos, seriös und glaubwürdig zu bleiben, ohne Vermutungen an die Stelle von Wahrheiten zu setzen.“

DS: Sie sind Grimme-Preisträger und werden bei Ihren Lesungen vom Publikum gefeiert. Ist das die Anerkennung, die Sie sich als Musiker gewünscht hätten?

Jochen Rausch: „Wer weiß, vielleicht komme ich ja als Musiker noch groß raus. Obwohl ich da so meine Zweifel habe: Immerhin habe ich es geschafft, vor einigen Jahren mit Udo Lindenberg seine erfolgloseste Platte zu machen. Sie hieß Lindenbergtracks. Allerdings haben wir auch ein neues Genre erfunden, die Spoken Songs. Die Nachtigall hat ihre Songs gesprochen und nicht gesungen. Vielleicht waren wir damit einfach zu früh und in ein paar Jahren ist es das Thema.“

DS: Hinter Ihren Romanen und Kurzgeschichten steckt ja immer eine wahre Begebenheit. Reizt es Sie nicht, einmal eine Biografie zu schreiben und falls ja, über wen?

Jochen Rausch: „Für eine Auto-Biografie bin ich noch nicht eitel genug. Ich habe aber schon einen starken Titel: ich habe früher beim Mittagessen gerne kleine Vorträge gehalten und meiner Familie die Welt erklärt. Mein Vater hat mich dann einen Klugscheißer, Quertreiber und Egoisten genannt. Das war aber nicht böse gemeint. Er hat ja Recht. Ich bin ein Querkopf und ich mag auch Querköpfe wie z.B. Udo Lindenberg. Er ist ein richtiger Typ, der sein Ding macht und sich nicht verbiegen lässt und solche Leute gefallen mir. Leute, die nur Kohle machen wollen und sich an einem dicken Wagen aufgeilen, langweilen mich zu Tode.“

DS: Wie kam es, dass ausgerechnet Taxifahrer Sie inspiriert haben, ein Buch zu schreiben?

Jochen Rausch: „Das Buch heisst: „Im Taxi – eine Deutschlandreise“. Taxifahrer haben mir sehr viele Geschichten erzählt, interessante, lustige, aber auch traurige. Das interessiert mich, Taxifahrer sind oft Leute, die das Leben und die Menschen kennen. Es gibt sogar richtige Philosophen darunter.“

DS: Welche Werte vermitteln Sie eigentlich Ihren Kindern?

Jochen Rausch: „Vorträge bringen nicht so viel, sie orientieren sich eh an dem, was sie sehen. Kein Daddy ist unfehlbar und macht alles richtig. Manchmal sagen Leute, ich sei ja ziemlich selbstbewusst. Dann sage ich: ‚Ja, ich war als Kind auch sehr viel auf dem Arm. Ich bedauere Menschen, die gar kein oder ein schlechtes Elternhaus hatten. Die Kindheit ist eine Tankstelle fürs Leben.

DS: Sie haben ja eine Zeit lang als Gerichtsreporter gearbeitet und über Prozesse berichtet. Sind Ihre Bücher eine späte Aufarbeitung der dramatischen Lebensgeschichten?

Jochen Rausch: „Das ist ja immer eine Mischung aus authentischen Ereignissen und Fiktion. Mich hat es beeindruckt, vor Gericht Menschen zu treffen, die seelisch total verroht waren. Man sah es ihnen aber oft gar nicht an. Und ich habe verstanden, dass der Unterschied zwischen Menschen, die Verbrechen begehen und denjenigen, die sie nicht begehen, nicht so groß ist, wie man vielleicht annimmt.“

DS: Sie haben ja auch ein Projekt mit Udo Lindenberg realisiert, der immer zeitlos schien. Jetzt ist er mittlerweile 73 Jahre alt. Beruhigt oder beunruhigt es Sie, dass auch Legenden altern?

Jochen Rausch: „Ich kenne Udo Lindenberg seit vielen Jahren. Er ist ein guter Typ, immer in Aktion, er ist hellwach, auch in den dunkleren Phasen des Lebens. Das macht Mut. Entweder lässt du dich hängen, dann bist du auch alt oder du ziehst es einfach bis zuletzt durch und gehst mit dem letzten Akkord in die Gruft, wie es Udo in seiner unnachahmlichen Art ausdrückt. Man braucht natürlich auch das Glück, dass man gesund bleibt.“

DS: Eine Frage an den Musiker Jochen Rausch: Welche Musik hören Sie eigentlich zuhause?

Jochen Rausch: „Ich bin so ein Abend-Radiohörer, weil ich abends schreibe und dabei das Radio eingeschaltet habe. Dann höre ich natürlich EinsLive, weil da viel neue Musik vorgestellt wird und ich mich so auf dem Laufenden halte. Ich höre mir auch mal einen Song von The Who oder Lieder von Johnny Cash an, aber noch lieber elektronischen Frickelkram. Neulich war ich auch bei Peter Brötzmann, Freejazz geht nur live, macht aber Spaß, weil Querkopfmusik.“

DS: „Krieg“ alias „Fremder Feind“ ist ein beeindruckender, erfreifender Fernsehen-Film. Ist die Story fiktiv oder gibt es da eine reale Vorlage?

Jochen Rausch: „Die Geschichte ist fiktiv, aber letztlich doch real. In jedem Krieg sterben Söhne und Kinder oder werden traumatisiert. Für die Angehörigen ist danach oft nichts mehr wie vorher. Für mich war ein zweiter Aspekt, dass wir alle uns kaum dafür interessieren, was deutsche Soldaten im Ausland machen. Wir gucken uns das, wenn überhaupt, aus sicherer Entfernung in der Tagesschau an. In Afghanistan sind übrigens über 55 deutsche Soldaten gefallen.“

DS: Hat die Dramatik, die in diesem Film zum Teil auf die Spitze getrieben wurden, Sie nicht selbst überrascht?

Jochen Rausch: „Das ist in der Vorlage des Buches ja schon angelegt. Es ist eine Art doppelter Krieg, der Krieg des Sohnes in Afghanistan und der Krieg seines Vaters mit sich selbst und einem Unbekannten. Ulrich Matthes hat das phantastisch gespielt, beklemmend realistisch, sehr einfühlsam.“

DS: Viele hat Ihr Film emotional völlig mitgenommen. Sie stellen sich jetzt die Frage: Wie kann ein so sympathischer, lebensbejahender, humorvoller Typ eine solch nervenzerfetzende, brutale Story schreiben?

Jochen Rausch: „Ich denke, dass wir den Abgründen näher sind als wir glauben. Eines jeden Toleranz ist zu Ende, wenn die eigenen Kinder angegriffen, verletzt oder gar getötet werden. Der Mensch ist leider nicht so zivilisiert, wie wir uns gerne sehen. Sonst würden wir aus Kriegen lernen und uns nicht von Generation zu Generation immer wieder aufs Neue die Köpfe einschlagen.“

DS: Einen Roman zu schreiben, ist die eine Sache. Dass dieser Roman dann auch verfilmt wird und damit einem Millionen-Publikum zugänglich gemacht wird, ist eine ganz andere Sache. Wie sehr stolz macht Sie das?

Jochen Rausch: „Wenn man schreibt oder Filme macht, dann will man auch, dass das gelesen und gesehen wird. Es steckt sehr viel Arbeit darin, an den Punkt zu kommen, dass die eigenen Sachen wahrgenommen werden. Das ist auch eine Bestätigung und Ansporn, weiterzumachen.“

DS: Haben Sie so etwas wie einen Lieblings-Film?

Jochen Rausch: „Das war im letzten Jahr eindeutig ‚Three Billboards outside Ebbing, Missouri‘. All time favourite sind ‚Fargo‘ und ‚No country for old men‘. Fremder Feind ist übrigens noch bis Mitte Mai kostenlos in der ARD-Mediathek zu sehen.“ www.jochenrausch.com

Vita

Jochen Rausch wurde am 07. April 1956 in Wuppertal geboren. Nach der Fachhochschulreife begann er eine Ausbildung bei der AOK. Zeitgleich arbeitete er als freier Journalist für die Wuppertaler Redaktion der NRZ, für andere WAZ-Zeitungen und für Kulturmagazine. Mitte der 80er arbeitete er als Radio- und TV-Reporter für WDR und ARD (z.B. „Tagesschau“). Parallel studierte er an der Bergischen Uni Wirtschaftswissenschaften und befasste sich mit Rundfunkökonomie.

Nach dem Studium wurde er Redakteur beim WDR und dann Referent des späteren Intendanten Fritz Pleitgen. 1995 wurde er zunächst Musikchef und dann Programmchef von „1LIVE“. Er hatte Lehraufträge, u.a. an der Musikhochschule Karlsruhe. Seit 2005 ist Jochen Rausch auch stellv. Hörfunkdirektor. 2015 erhielt er als erster Radiomacher den Grimmepreis; seit April 2015 leitet er neben 1LIVE auch die Programme WDR 2 und WDR 4.

Jochen Rausch als Musiker: Er war Sänger der Band „Die Helden“, später gründete er mit Detlef Cremer„Stahlnetz“. 1982 Veröffentlichung des Albums „Wir sind glücklich“ bei BMG Ariola (produziert vom legendären Conny Plank). Die Single „Vor all den Jahren“ war ein Top 20-Titel. Unter dem Namen LEBENdIGITAL veröffentlichten Rausch und Cremer verschiedene „Spoken-Song“-Alben, zuletzt mit Udo Lindenberg das Album LINDENBERGTRACKS (Randomhouse).

Er veröffentlichte bislang 5 Bücher: „Restlicht“ (2008),„Trieb“ (2010), „Krieg“ (2013) und „Rache“ (2015). Alle Bücher kamen auch als Hörbücher heraus. Ende 2016 erschien beim Berlin Verlag/Piper „Im Taxi – eine Deutschlandreise“. Der Fernsehfilm „Fremder Feind“ (ARD), der auf Jochen Rauschs Roman „Krieg“ basiert, wurde 2018 mit dem Deutschen Fernsehfilmpreis ausgezeichnet. Außerdem erhielt der Film 2019 in Monte Carlo (Monaco) den „Prix Signis“

Jochen Rausch ist verheiratet, hat zwei Kinder.

Das Interview führte Peter Pionke

Kommentare

Neuen Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert