Prof. Dietrich Grönemeyer: „Ich möchte 100 Jahre alt werden“

„Ich würde gern 100 Jahre alt werden“, sagt Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer. Der 64jährige Mediziner hat noch sehr viel vor. Lesen Sie hier das ausführliche Interview mit dem prominenten Arzt in unserer Reihe "Hand aufs Herz":

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer – © Claudio di Lucia

Er besitzt viele Talente. Verfasser wissenschaftlicher Schriften, erfolgreicher Buchautor, Erfinder der Zeichentrick-Figur „Der kleine Medicus“, Moderator einen eigenen TV-Sendung. Doch in erster Linie ist er Arzt – ein Mediziner mit Leib und Seele. Prof. Dr. Dietrich Grömemeyer (64), älterer Bruder des Sängers und Songschreibers Herbert Grönemeyer („Männer“ – „Bochum“), sieht sich als medizinischer Grenzgänger, der auch alternative Heilmethoden nicht ignoriert – zum Wohle seiner Patienten. Und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Das beweist er auch in dem Interview, das Peter Pionke mit ihm führte.

DS: „Sie verlassenen sich nicht nur auf die Schulmedizin, sondern sehen Körper, Seele und Geist als Ganzes. Wie kamen Sie zu dieser Einsicht?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Ich bin Schulmediziner, plädiere aber seit langem für ein Zusammenwirken der verschiedenen therapeutischen Methoden, ohne dogmatische Scheuklappen, also Schulmedizin und Hightech, aber auch komplementäre Verfahren und Naturheilkunde. Vieles wäre ja ohne naturheilkundliche Erfahrung nicht denkbar, das Aspirin unter anderem. Und wer wollte schließlich bestreiten, dass wir Schulmediziner hinsichtlich der menschlichen Zuwendung noch manches von den Vertretern der alternativen Medizin lernen können. Weil sie sich die Zeit nehmen, die wir selbst immer weniger zu haben glauben, gehen die Patienten zu ihnen. Diese Bereitschaft, „sich einzulassen“, ist das Entscheidende. Das heißt aber nicht dass hier dem Handauflegen oder irgendwelcher Geisterbeschwörung das Wort geredet werden soll, obwohl auch das in manchen Kulturen seine Bedeutung hat. Dabei gilt für die Naturheilkunde selbstverständlich das Gleiche wie für die Schulmedizin: Das heilende Ergebnis der Verfahren muss nachweis- und wiederholbar sein, selbst wenn der Wirkungsmechanismus nicht immer erklärbar sein mag.“

DS: Viele Ihrer Kollegen schrecken ja immer noch vor Naturheilkunde zurück wie der Teufel vor dem Weihwasser. Warum hatten Sie diesbezüglich nie Berührungsängste?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Vielleicht, weil es in meiner Familie beide „Seiten“ gab, sowohl Schulmediziner als auch Naturheilkundler. Irgendwie war mir das von Anfang an klar. Was wir brauchen, sind fließende Grenzen. Der Eid, den wir geschworen haben, verpflichtet uns, den Menschen zu helfen, nicht einem Lager zu dienen. In diesem Sinn gilt am Ende nur eines: „Wer heilt, hat Recht.“ Das ist das Ethos einer gleichermaßen modernen wie traditionsbewussten, einer ganzheitlichen Medizin.“

DS: Sie haben sich einen Namen als Rückenexperte und Mikrotherapeut gemacht. Wie entstehen Rückenschmerzen?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Bei den meisten von uns liegt es am Lebensstil: Wir bewegen uns zu wenig, sitzen zu viel und dann auch noch falsch. Dadurch verspannen sich die Muskeln, die die Wirbelsäule stützen und einen Großteil des Gewichts abfedern, das auf der Wirbelsäule lastet. Etwa 80 Prozent aller Rückenschmerzen sind auf verspannte Muskulatur zurückzuführen. Kommt noch Übergewicht dazu, ist der Rücken besonders gefährdet. Nicht übersehen darf man aber auch den Zusammenhang zur Psyche: Der Rücken muss alles „tragen“, so auch Stress und seelische Belastungen. Wer unter Dauerbelastung steht, zieht instinktiv die Schultern hoch. Das ist eine ganz natürliche, unbewusste Abwehrhaltung. Aber diese Körperhaltung bremst auch die Beweglichkeit des Brustkorbs. Die Drehbewegungen zwischen Hüfte und Schultern werden immer anstrengender, bis es richtig weh tut. Weitere Schmerzursachen können eingeklemmte Nerven, verschobene Bandscheiben und einseitige Belastungen sein sowie Verrenkungen durch Unfälle. Verschleiß ist dagegen nur zum kleineren Teil für Rückenschmerzen verantwortlich. Etwa zehn Prozent der Rückenschmerzen sind auf Blockaden oder Verschleiß(Arthrosen) der Wirbelgelenke und nur 3 bis 4 Prozent auf Veränderungen der Bandscheiben zurückzuführen.“

DS: Ist Bewegung wirklich so enorm wichtig?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Ja! Aber neben dem Rückentraining sollte auch das Bauchmuskeltraining nicht vergessen werden. Zudem werden ja die Bandscheiben nur durch Bewegung „ernährt“. Walking etwa ist eine ideale Form des Ausdauertrainings, das sowohl Bein- als auch Rumpfmuskulatur stärkt. Dadurch verbessert sich die Haltung, Rückenschmerzen wird vorgebeugt. Schwimmsport und Wassergymnastik sind gelenkschonend, da durch die Auftriebskräfte des Wassers das Eigengewicht des Körpers weniger zum Tragen kommt. Auch das Tanzen ist zu empfehlen. Sportarten mit ruckartigen Bewegungen dagegen sollte man meiden. Generell gilt: Menschen mit Rückenschmerzen sollten mit dem Arzt über ihre individuellen Möglichkeiten sprechen.“

DS: Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Bewegung, nochmals Bewegung, individuell dosiert. Zusätzlich können leichte Schmerzmittel, Wärmebehandlungen, und Physiotherapie (Massagen) angezeigt sein. Je nach Diagnose ergibt sich ein individueller, multimodaler Therapieansatz. Die Heilungsmöglichkeiten reichen je nach Schweregrad und individueller Situation vom regelmäßigen Schwimmen über Massagen, Akupunktur, Osteopathie bis zur Psychotherapie. Andere Behandlungsmethoden wie die der ambulanten Mikrotherapie – einer gezielten Behandlung unter Sicht des Computertomographen mit lokaler vorsichtiger Behandlung der Nerven oder Bandscheibe, die ich vor 30 Jahren entwickelt habe – können helfen, sofern nicht doch eine Bandscheibenoperation notwendig wird.“

DS: Wie lange sollte man warten, bis man zum Arzt geht?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „In leichten Fällen können Schmerzmittel vorübergehend helfen. Länger als einige Tage sollte man sie aber nicht einnehmen. Denn wer länger Schmerzen hat, nimmt eine Schonhaltung ein, was wiederum zu einer Zunahme der Verspannung führt. Einen Arzt müssen Sie unbedingt aufsuchen, wenn die Schmerzen ins Bein oder den Arm ausstrahlen, nach einer Woche nicht besser werden oder sich sogar verschlechtern bzw. ein Kraftverlust auftritt. Sofortige ärztliche Hilfe benötigt man, wenn Körperhaltung oder Bewegungen nichts am Grad oder an der Lokalisation der Schmerzen ändern oder diese stärker werden. Auch Taubheitsgefühle und Probleme beim Wasserlassen müssen sofort abgeklärt werden.“

DS: Wie kann man einen „Hexenschuss“ vom Bandscheibenvorfall unterscheiden?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Bei dem akuten plötzlich einschießenden Schmerz im Lendenwirbelbereich handelt es sich meistens um einen Hexenschuss. Durch falsches Heben oder eine Drehbewegung – manchmal auch bei Verkühlungen oder langem Verharren in einer Position – kann sich blitzschnell die Muskulatur verhärten. Auch Blockaden in den Wirbelgelenken kommen als Auslöser in Frage. Das kann so weh tun, dass man sich nicht mehr aufrichten kann. Gegen die Verspannungen und leichte Schmerzen helfen meist Wärme, Dehnen, lokale Massagen oder auch Akupunktur. Sinnvoll ist Krankengymnastik und zur Harmonisierung der Muskeln und Sehnen auch die Osteopathie bzw. zur Korrektur von Gelenksverschiebungen die Manualtherapie oder Chiropraxis. Typische Symptome des Bandscheibenvorfalls sind dagegen starke, häufig in ein oder beide Arme oder in ein oder beide Beine ausstrahlende Schmerzen. Oft gehen diese mit einem Taubheitsgefühl einher. Dramatisch wird es, wenn auch noch Lähmungserscheinungen dazukommen. Doch gibt es auch Bandscheiben-vorfälle, die jahrelang unentdeckt bleiben, weil sie keine Schmerzen verursachen.“

DS: Wie steht es um die Gesundheit der Deutschen? Wie krank sind wir wirklich – oder sind wir eher ein Volk der Hypochonder?

Prof. Dietrich Grönemeyer: Es gibt eine Zunahme von Infektionserkrankungen, Arthrose, Diabetes, Bluthochdruck, Allergien und Depressionen zum Beispiel. Und Erkrankungen, die mit mangelnder Bewegung, falscher Ernährung und Stress zu tun haben. Das steht außer Frage. Leistungsdruck und zunehmende Umweltbelastungen tun dazu das Ihrige. Dass wir Deutschen aber ein Volk der Hypochonder sind, glaube ich nicht. Im Gegenteil schenken die Deutschen ihrer Gesundheit zu wenig Aufmerksamkeit. Wir wissen als Erwachsene unglaublich viel, wenn es um unser Auto, unser Handy, sonstiges technisches Equipment geht – aber über unseren eigenen Körper wissen wir meist kaum etwas. Das sollte sich ändern.“

DS: Was wünschen Sie von einer Medizin der Zukunft?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Das Herz eines neuen Gesundheitssystems ist für mich eine Medizin, bei der Arzt und Patient – aber auch der Arzt und Apotheker und die anderen Heilberufe wie Schwestern und Pfleger – sich als Partner verstehen. Eine Medizin mit Würde erfasst die Bedürfnisse eines jeden Einzelnen. Es geht darum, durch ein integratives Zusammenspiel der medizinischen Disziplinen jeden Menschen so zu behandeln, wie es individuell angezeigt ist, sei es schulmedizinisch oder naturheilkundlich, psychisch oder körperlich.“

DS: Mit Ihrem Manifest „WIR – vom Mut zum Miteinander“, weisen Sie theoretisch den Weg, wie ein friedliches Zusammenleben aller Völker und Kulturen möglich wäre. Warum sind wir davon so weit entfernt?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Vielleicht weil Machtinteressen und Ängste so schwer aufzubrechen sind. Dennoch lohnt sich der Weg zum Miteinander, über kulturelle, ethnische und religiöse Grenzen hinweg – es gibt eigentlich keinen anderen! Gerade im Zug der Globalisierung sollten wir verstehen: Nur gemeinsam, nicht gegeneinander, können wir in dieser einen Welt glücklich werden, jeder auf seine Art. Respekt voreinander und gegenseitige Achtung sind die Gebote der Zukunft. Das ist schon immer auch meine Haltung tagtäglich dem Patienten gegenüber. Als Arzt mit der Ablegung des Hipokratischen Eides habe ich dies für immer geschworen. Dieser Eid wäre eine wunderbare Grundlage für alle Menschen, um die Zukunft dieses Erdballes menschenwürdig für unsere Kinder zu gestalten.“

DS: Kinder liegen Ihnen besonders am Herzen. Sind Sie da nicht der Verzweiflung nahe, wenn Sie erleben, dass viele Kids keinen Sport treiben, Fastfood futtern und ihre komplette Freizeit vor dem PC verbringen?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Ja, das ist nicht besonders motivierend. Aber Aufklärung braucht eben einen langen Atem. Und den möchte ich mir vor allem bewahren. Wir alle tragen Verantwortung für die Welt, die wir unseren Nachkommen hinterlassen, selbst wenn das manchmal viel Zuversicht braucht und den Mut, neue Wege zu gehen. Ich tue das gern.“

DS: Sie plädieren seit langem dafür, dass Fach Gesundheit in den Schulen einzuführen! Warum?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Ich wünsche mir seit Jahren, dass jeder mehr Verantwortung für seinen Körper und seinen Geist übernimmt. „Der Patient ist selbst der wahre Arzt – wir Ärzte sind nur seine Gehilfen“ – frei nach Paracelsus… Wir könnten alle so viel mehr tun, um gesund und fit zu bleiben. Das ist für mich auch eine Herausforderung, Hier gilt es Begeisterung zu wecken. Im und mit dem „Kleinen Medicus“ lasse ich Kinder in die Rolle einer Figur schlüpfen, die offen für Neues ist – und ihnen hilft, sich selbst neu zu entdecken. Doch dieses Wissen bedeutet auch: Verantwortung. Man darf sich nicht nur auf Hightech und „Halbgötter in Weiß“ verlassen, wenn man krank ist. Der kleine Medicus steht auch für den Arzt in dir selbst, für Hilfe zur Selbsthilfe. Aber ich weiß auch: Gesundheitsunterricht ist keine Frage von ein, zwei Jahren. Das ist ein Thema für Jahrzehnte und Generationen. Das Umdenken braucht seine Zeit.“

DS: Sie werden in diesem Jahr 65. Ein Alter, in dem Millionen Arbeitnehmer in Rente gehen. Wird dieser Geburtstag auch ein Meilenstein ihn Ihrem Leben sein?
Prof. Dietrich Grönemeyer: „Für mich ist das einfach eine Zwischenstation auf meinem weiteren Weg.“

DS: Gib es irgendetwas, das Sie in Ihrem Leben bereuen?

Prof. Dietrich Grönemeyer: „Natürlich könnte ich jetzt wie jeder von uns vieles aufzählen. Beispielsweise: Eine Gastprofessur in China nicht angenommen zu haben … aber darauf kommt es nicht an, wichtig ist doch, dass die Richtung stimmt, die man für sich eingeschlagen hat. Und ich bin Arzt aus Leidenschaft. Da gibt es nichts zu bereuen.“

DS: Welches Lebensziel haben Sie sich noch gesetzt?

Prof. Dietrich Gönemeyer: „Ach, ich habe sehr viel Ziele und Projekte. Dafür möchte ich geistig und körperlich fit bleiben, am liebsten 100 Jahre alt werden.“

DS: Vielen Dank für das spannende Gespräch

Das Interview führte Peter Pionke

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer – © Claudio di Lucia

VITA

Dietrich Grönemeyer wurde am 12.11.1952 in Clausthal-Zellerfeld geboren. Der Bruder des bekannten Sängers und Schauspielers Herbert Grönemeyer (*1956) wuchs in Bochum auf. Sein Vater war Ingenieur, die Mutter entstammte einer Ärzte-Familie. Dietrich Grönemeyer machte er 1972 sein Abitur am Humanistischen Gymnasium Bochum. Von 1974 bis 1976 studierte er Romanistik und Sinologie an der Ruhr-Universität Bochum, von 1976 bis 1982 Humanmedizin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 1981 promovierte er und wurde Assistenzarzt für Radiologie in Kiel und Witten. Seine Habilitation folgte 1990 an der Universität Witten/Herdecke. Dort war Grönemeyer bis zu seiner Emeritierung 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Radiologie und des weltweit einzigen Lehrstuhls für Mikrotherapie. Er leitet das Grönemeyer Instituts für Mikrotherapie in Bochum. Am 01.09.2013 wurde er zum Professor für Gesundheitswirtschaft in den Hochschulrat der Steinbeis-Universität Berlin berufen.

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, ein Nachfahre des baltendeutschen Mediziners Carl Abraham Hunnius. Ist seit 1977 mit Christa Enste verheiratet. Das Paar hat drei Kinder.

Grönemeyer gilt durch die Zusammenführung und Weiterentwicklung von interventioneller Radiologie, Endoskopie und Schmerztherapie als der „Vater der Mikrotherapie“. Prof. Dietrich Grönemeyer, der u.a. Gastprofessuren an der Havard Medical School in Boston (USA) inne hatte, machte sich auch als Verfasser von wissenschaftlichen Schriften und Büchern, mit der Erfindung der Figur des „Kleinen Medicus“ für Kinder im Alter 6 bis 14 Jahren sowie als Protagonist der ZDF-Sendung Dietrich Grönemeyer – Leben ist mehr!“ einen Namen.

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